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Ludwig Ganghofer
Der Michel und sein Todfeind

Ludwig Ganghofer: Der Michel und sein Todfeind

Zwei Jahre später sollte mich ein böser Zufall zum Zeugen der Abrechnung machen, die in der Sonne eines schonen Morgens diese beiden Todfeinde miteinander hielten.
Seit einer Woche hauste ich mit dem Michel hoch droben über dem See in einer Jagdhütte. Am Samstag abend mußte der Jäger ins Dorf hinunter, um seinen Wochenrapport zu erstatten. Weil er am folgenden Morgen nicht zurück sein konnte, bis es schußlicht wurde, machten wir aus, daß ich für mich allein einen Pirschgang unternehmen sollte, während der Michel seinen Rückweg zu einem Speggaliermarsch durch die tiefer liegenden Wälder zu benützen gedachte, die an Sonn- und Feiertagen gern von ungeladenen Jagdgästen besucht wurden. Dann wollten wir uns auf der Seeplatte treffen.
Es war ein herrlicher Morgen, so reich an geheimnisvollem Reiz und zärtlich flüsternden Farben, daß ich bei unersättlichem Schau en ganz der Jagd vergaß. Als die kommende Sonne ihre Rosenglut über die steinernen Zinnen hinhauchte, alle die schweigsamen Wipfel der Zirben umgoldet und in den weißen Tauperlen die feurig blitzenden Seelchen weckte, schwammen aus der Tiefe gerade die sanften Glockentöne herauf, die drunten im Dorf zur Frühmesse riefen. Wie köstlich fein das in der Stimmung war! Zu solcher Stunde, wenn die Natur im keuschen Glanz der Frühe all ihre Schönheit vor dir entschleiert wie ein Weib, das dich liebt, -zu solcher Stunde rinnen dir merkwürdige Dinge durch Blut und Sinn, durch Kopf und Herz! Da glaubst du allem ungelösten Rätsel des Lebens wie ein Wissender gegenüberzustehen - da lächelst du, und alles Denken ist in dir wie der silberne Lauf einer klaren Quelle.
Aber was mag sich wohl in dieser köstlich feinen Stimmung der Hirsch gedacht haben, der auf dreißig Gänge vor mir stand, ohne daß ich ihn sah, und der mich erst durch den Lärm seiner Flucht auf sich aufmerksam machte? Und als ich dann hinauskam in die Seewände und dem steil hinunterstürzenden Gefels zu Füßen den See da drunten Hegen sah wie einen großen, dunklen Smaragd, im Filigran der steinernen Ufer - da vergrämte ich noch einen Gemsbock, der pfeifend über die Wand hinaufsauste.
Die gute Pirschzeit war noch nicht vorüber, aber mich lockte die Jagd nicht mehr. Und da war auch schon die Seeplatte, eine grün gepolsterte Felsnase, die sich wie ein kleiner Erker hinaushob in die Luft. Ich legte das Fernrohr und die Büchse ins Gras, breitete den Wettermantel in die Sonne und ließ mich nieder, urn auf den Michel zu warten. Als ich meine Zigarette anbrannte, klang der Hall eines fernen Schusses weit draußen in der Leitenwand, die mit schwindelnder Steile hinunterfiel nach dem See, in hohen Stockwerken von schmalen, grünen Bändern durchzogen und gesprenkelt mit kleinen Waldflecken, auf denen niedere Latschenstauden und kümmernde Fichten um ihr bißchen Leben rangen.
„Der Michel hat einen ändern Weg genommen“, dachte ich mir, „und hat auf irgendein Raubwild geschossenen.“
Eine Weile spähte ich über die Leitenwand hinaus, ob nicht der Michel irgendwo daherkäme. Dann guckte ich wieder hinunter in die wundersame Tiefe und blies in Träumen den Rauch der Zigarette vor mich hin.
Die Sonnenstrahlen, die da drüben durch alle Scharten der Berge breit hervorbrachen, spannten sich wie goldene Stege über den Kessel, in dem der See gebettet lag. Bei mir herüben, auf der Sonnenseite, war alles ein Schimmer und Glast. Drüben aber waren die Wände und Wälder versunken unter dunstigem Schattenblau wie eine Welt, die noch nicht fertig ist.
Da weckte mich das Geklapper flinker Schritte. Der Michel kam, aber nicht von der Leitenwand, sondern von der entgegengesetzten Seite. „Hab scho ghört!“ rief er mich an. „Liegt ebbes? Oder haben S' gfehlt?“
„Aber Michel? War denn der Schuß nicht von Ihnen? Ich hab' ja doch gar nicht geschossen!“
„Herrgott sakra!“ Von hinten schob er den Hut in die Stirn. „Da haben mer an Lumpen im Revier!“ Und an wen erdachte, das merkte ich gleich; denn er machte den krummen Buckel und hatte keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht. Wie der Blitz huschte sein spähender Blick über alles Sichtbare hin. Das war kein Mensch mehr - so muß der Blick eines Tieres sein, das den Wolf in der Nähe wittert.
Sich duckend, sprang er zu mir, warf sich auf die Knie, fragte flüsternd, in welcher Richtung ich den Schuß gehört hatte - und zischelte: „Schaugn S', daß S' hoamkommen! Jetzt kon i Eahna nimmer brauchen, jetzt muaß i Deanst machen!“
Ich wollte schon in Eile mein Zeug zusammenraffen, als drüben in der Leitenwand das Rollen und Sausen fallender Steine klang. Und bei einem der kleinen Waldflecke, die wie Vogelnester an den Felsen hingen, meinte ich etwas Bewegliches zu entdecken. Während ich mit zitternden Händen das Fernrohr auseinanderzog, hörte ich hinter mir einen keuchenden Laut. Und was ich im Glase hatte, alles gaukelte, die mageren Bäumchen, das graue Gestein, die niederen Latschen und der näher steigende Mensch da drüben, über dessen Kopf die Läufe des Gemsbockes hinaufstarrten, den er im Rucksack schleppte. Mit der einen Hand klammerte er sich immer an die Latschen und Felsen an, in der anderen hielt er, wie schußfertig, die Büchse. Alle paar Schritte blieb er stehen und drehte den Kopf. Der Gestalt nach meinte ich ihn zu erkennen. Aber das Gesicht war von einer schwarzen Maske aus Drahtgeflecht bedeckt und mit einem Wulst von Roßhaaren umhangen.
Michel wollte ich sagen. Aber da warf mich der Luftdruck eines Schusses, der mir dicht am Ohr vorbeigegangen, fast zu Boden. Und der Mensch in der Leitenwand, der machte einen meterhohen Sprung - und verschwand.
Mir wurde übel. Und wie in einem Nebel sah ich, daß der Michel, in der Faust die rauchende Büchse, an den Rand der Platte vorsprang und mit gestrecktem Hals auf das Rollen und Gepolter lauschte, das immer weiter hinunterrasselte gegen den See. Dann drehte er das Gesicht zu mir und sagte: „Da fallt oaner abi! Ob jetzt dös der Gamsbock sein weard? Oder der Bartl?“
Das Grauen schüttelte mir alle Glieder. »Michel! Um Gottes willen! Wie kann man denn einen Menschen so niederschießen?«
Der Michel gab keine Antwort, sondern guckte wieder und lauschte in die Tiefe, in der es still geworden. Dann sagte er: »Jetzt muaß i allweil umisteigen! Kunnt ja mögli sein, daß 'r no schnauft. Und da konst an Menschen do aa net liegen lassen.« Er sprang von der Platte auf einen steinernen Sockel hinunter, und während er in die Leitenwand einstieg, schob er eine frische Patrone in die Büchse.
Es würgte in mir, ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten - und dennoch trieb es mich hinter dem Michel her. Aber langsam ging es. Und den Michel sah ich schon nimmer. Nach einer Weile hörte ich ihn rufen: „An Schwoaß hab i scho!“ Dann schrie er: „Bartl! He Bartl! He! Sei gscheit und gib an, bal no konnst!“ Nun Stille. Nur manchmal das Rollen kleiner Steine. Und jetzt ein Laut des Erbarmens: „Jesses, da liegt `r!“
Von dem Felsband, über das ich mich vorwärts krabbelte, konnte ich hinuntersehen auf den Fleck, der den Bartl im Sturze aufgefangen hatte. Was mit Gerassel in die Tiefe gefahren, das war nur der Rucksack mit dem Bock gewesen.
Ganz ruhig lag der Bartl auf dem Rücken, mit der linken Hand an eine Latschenstaude geklammert. Die Joppe war ihm halb über die Schulter gezogen, und die Drahtmaske war von dem bleichen Gesicht gerissen, in dessen wasserblauen Augen noch das Leben glänzte.
Und jetzt kommt das Merkwürdige, um dessentwillen ich diese Geschichte erzähle. Ob alle meine Leser das verstehen werden? Auch mir, der ich mein halbes Leben mit dem Volk der Berge teilte, ist das in dreiundzwanzig Jahren nicht völlig verständlich geworden.
Da liegt ein Sterbender, und sein Mörder steht vor ihm - zwei Menschen, in denen der aus Lebenssorge entstandene Haß seit Jahren gebrannt hat, wie das Feuer in der Esse brennt, wenn der Blasebalg getreten wird. Und nun ratet, was diese beiden Menschen sich zu sagen hatten!
Ich sah, wie sich der Michel, die beiden Hände auf seine nackten Knie gestützt, über den ändern hinbeugte, und hörte ihn fragen, in einem gutmütig freundlichen Ton: „Was moanst denn, Bartl? Fehlt's weit?“
Und der andere, mit der Stimme eines Gesunden, sagte: „Bis hoam, daucht mer, langt's ebba nimmer. Kunntst mer scho an Gfallen toan, wann mer den Pfarr auffiholen taatst.“
„Aber freili, gearn, i lauf, was i laufen kon!“
„Vergeltsgott! Und bis si der Pfarr firti macht, konst es em Vater aa glei sagn.“
„Freili, ja.« Der Michel wollte davon. Und besann sich. „Wart, i tua dir no ebbas!“ Mit seinen eisernen Händen riß er einen großen Rasenbrocken von der Felswand und legte ihn dem Bartl mit der Grasseite auf die rote Brust. „Woast, dos hebt d'r 's Blüat auf!“
„Moanst?“
„Ja. Dös hat mer oaner gsagt arnal. Aber schön stadhalten muaßt di, gelt! I tummel mi scho. Pfüe Gott derweil!« Und während der Michel durch die Felswand hinausstieg, so flink, als hätte er das Trottoir einer städtischen Promenade unter den Schuhen, rief er zu mir herauf: »Steigen S' abi, Herr, und bleiben S' hocken bei eahm! Sunst kunnt 'r Langweil haben. In vier Stund, moan i, bin i da mit'm Pfarr!“
Alles Entsetzen, das in mir gezittert hatte, war für einen Augenblick überwunden von einem fassungslosen Staunen über diese beiden Menschen, für die alles Geschehene eine selbstverständliche und erledigte Sache war, über die es kein Wort mehr zu reden gab.
Doch als ich zu dem Grasband hinunterkam und den Sterben­den und sein rinnendes Blut in der Nähe sah, packte mich das Grauen wieder.
Er stöhnte ein wenig und wollte mit der rechten Hand nach seinem Nacken greifen.
Mühsam brachte ich's heraus: »Kann ich Ihnen was helfen?«
„A bißl a Mies kunntst mer einischiabn unters Gnack! So a Stoanl, dös druckt mir so!“
Mit der einen Hand raffte ich das Moos zusammen, mit der anderen klammerte ich mich an einen Felszacken - denn der Platz war bedenklich. Und so schmal war der Fleck, daß ich am Bartl nicht vorbei konnte, sondern über ihn hinübersteigen mußte, um zu seinem Kopf zu kommen. Als ich mich bückte, das Moosbüschel zwischen den Händen, wollte sich der Bartl aufrichten, um mir die Sache zu erleichtern. Das Rasenpflaster, das ihm der Michel auf den Einschuß gelegt hatte, kollerte ihm über die Brust herunter- und da schien es, als wäre dem Bartl plötzlich zwischen den Rippen etwas entzwei gegangen. Die Augen quollen ihm starr aus den Höhlen, seine Fäuste machten noch einen Zuck nach dem Herzen, lautlos fiel er zurück, die Arme schlugen wie Blei auf die Steine, der Körper fing zu rollen an, leblos, nur vom Gewicht seiner Schwere - und bevor ich in meinem Schreck noch zugreifen konnte, glitt der Tote über den Rand des Felsens hinaus, umprasselt von Steinen, die seine Reise in die Tiefe mitmachten.
„Michel!“ begann ich wie irrsinnig zu schreien. „Michel! Michel! Michel!“
Nach einer Weile kam der Jäger hastig durch die Wand hereingestiegen. Nicht mein Schrei, sondern das Gepolter der Steinlawine hatte ihn zurückgerufen. Als er mich sah, tat er einen Schnaufer der Erleichterung und guckte über die Wand hinunter. „Hat's den Bartl abigrissen?“ Den Namen betonte er. „Da braucht er koan Pfarr nimmer!“ Der Michel nahm den Hut ab und bekreuzigte sich. „Muaß 'r halt selm schaugn, wie er mit'm Herrgott füranand kommt!“ Er warf die Joppe ab und streifte die Schuhe von den nackten Füßen. „Da habn mer jetzt a grobs Stückl Arbet! Himi Herrgott Sakrament!” Mit ruhiger Vorsicht kletterte er über die Felswand hinunter.
Um dieses Blut nicht mehr sehen zu müssen, stieg ich aus der Felswand hinaus. In einer engen Steinrinne setzte ich mich nieder.
Das dauerte lange, bis der Michel wiederkam - damals meinte ich, es wäre eine Ewigkeit - aber es waren nur drei Stunden. Plötzlich stand er vor mir, die Joppe über der Schulter, in der einen Hand die Büchse, in der anderen die klobigen Schuhe. Von den wundgerissenen Füßen tropfte ihm das Blut - sein eigenes.
„Jetzt liegen s' alle zwoa beinand“, sagte er, „der Bock und der Bartl! Und dös macht 'r allweil so, unser See. Daß 'r koan nimmer auffilaßt! Da weard eahna 's Suachn net viel bideuten! Sauberer hätt's net aufgehn kinna!“ Mit einem Grasbüschel wischte er das Blut von den Füßen und schlüpfte in die Schuhe. „Schaugn mer hoamzua!“ Tief atmend zog er die Joppe an, trocknete sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Gesicht, nahm die Patronen aus der Büchse und sah mir fest in die Augen. „Gelt, halten S' fein 's Mau! Sunst kunnte mer nobel in d! Schlemastik kemma! Die dalketen Leut san allwei die mehrern, da woaßt nia, wie dran bist!“
Ich brachte kein Wort heraus. Und dieser Heimweg zur Hütte war eine böse Sache für mich. Die Nachwehen der Aufregung kochten in mir, daß ich alle paar hundert Schritte zu einem bitteren Heiligen beten mußte. Überall hatte der Michel eine Quelle zur Hand, und immer lief er und brachte mir Wasser in seinem Hut. Schließlich verging ihm bei dieser Krankenpflege aber doch die Geduld, und verdrossen murrte er vor sich hin: „Malefiz Stadtleut, verfluachte! Was ma da allweil für Schererei hat!“ Doch er besänftigte sich wieder und rüttelte mich zutraulich am Arm: „Aber! So stellen S' Eahna do a bißl vernünfti an! Is do gscheher, mier zwoa gengan hoam, und der ander liegt drunt! Bai uns der ander derspecht hätt moanen S', der hätt Springginkerln gmacht? Da hätt's haltghoaßen: So oder i! Wen's halt troffen hätt! Na, na! Sammer zfrieden! Jetzt haben mer unser Ruah!“
Diese Logik, der ich nicht widersprechen konnte, beruhigte mich ein wenig. Ich sagte nichts mehr, und schweigend marschierte der Michel hinter mir her. Aber dann hatte er zu seiner Logik noch einen Nachtrag zu machen: „A nagelneue Doppelbüchs hat 'r ghabt! Da hätt 'r uns alle zwoa rasieren kinna! A feins Gwehrl! Dös hat mi feingreut, weili's einischmeißen hab müassen in See!“
Nun blieb er still. Erst als wir in die Nähe der Hütte kamen, wachte er aus seiner nachdenklichen Stimmung auf und sagte: „Jetzt is 'r um d' Eeich aa no kemma! Do weard'n fuxn, da drent. Wissen S', an der Schmidden, da hängt a mordsmäßige Freindschaft. Do waaren eahm alle mit der Eeich ganga! Ja! A schöns Begräbnis hätt 'r haben kinna, wann 'r in der Ordnung gstorben waar.“
Drei unbehagliche Tage blieb ich noch in der Hütte - und tat es, weil der Michel das aus triftigen Gründen für nötig hielt. Aber als ich am Mittwochabend hinunterkam ins Dorf, mußte ich vor dem Forstmeister mein Gewissen erleichtern. Der erschrak zuerst, dann kratzte er sich hinter den Ohren und fing zu schimpfen an -aber nicht auf den Michel. Den ganzen Abend redete er in mich hinein. Und erzählte mir die Geschichte von einem Dutzend Jägern, die man kalt im Bergwald gefunden hatte, mit der Kugel im Rücken oder mit den Posten im Bauch. Aber von einem Wilddieb, der zu Gericht gegangen, um sich als Mörder zu bekennen, hätte man noch nie was gehört. Im Gesetz, da muß es freilich heißen: Der Jäger darf sich nur wehren! Aber wenn der Jäger, sobald es ans Wehren geht, schon ein toter Mann ist? Und Weib und Kind hat? Was dann?
Bis nach Mitternacht schwatzte der Forstmeister immerzu, bald heiß, bald wieder ruhig. Aber mit seiner fünfstündigen Rede sagte er mir auch nichts anderes, als was mir der Michel mit fünf kleinen Worten gesagt hatte: „Gelt, halten S' fei 's Mau!“
Als die Woche zu Ende ging, begann man in der Schmiede einen zu vermissen. Wo hätte man ihn suchen sollen? Auf zehn Stunden in der Runde war jedes wildreiche Revier ein Lieblingsaufenthalt des Bartl gewesen. Von allen Jägern der Nachbarschaft stand jeder unter dem Verdacht, daß er den Bartl füranand bracht hätte. Nur den Michel ließ das Geschwätz in Ruhe, Denn im Dorfe wußten sie: Der Michel hatte einen Jagdgast zu führen; und so ein bequemer Stadtfrack will nicht nur auf die Pirsche geführt sein, sondern will auch seine Schuhe geschmiert bekommen; da hat der führende Jäger keine Zeit für andere Dinge!
Erst nach vierzehn Jahren sah ich den Michel wieder. Ein lustiger Kerl, gesund und frisch wie das rechte Leben! Und jenen ruhelos huschenden Blick, den hatten seine Augen ganz verloren. Mit gemütlichem Behagen guckte er hinein in die Welt und in den Wald. Und niemals sprach er zu mir auch nur mit einer Silbe von jenem roten Sonntag.
Dann bin ich ihm nimmer begegnet. Vergangenes Jahr, an Ostern, las ich in der Zeltung, daß er in Pension gegangen - in den „verdienten Ruhestands“ wie sie das amtlich nennen.
Und da nun gedruckt ist, was ich hier erzählte - wer weiß, ob da nicht ein Zufall dem Michel das Buch in die Hände spielt? Das Gesicht, das er dazu machen wird, kann ich mir ungefähr denken. Vor allem wird der Michel verwundert dreingucken, wenn er merkt, daß ich an dieser Geschichte nicht ganz verstanden habe, wie Todfeinde miteinander reden müssen, wenn dem einen die Kugel des ändern zwischen den Rippen sitzt. Und dann wird er mit der Faust auf den Tisch hauen und wird schimpfen: „Herrgott sakra! Hat 'r halt doch sein Maul net halten klnna! Malefiz Stadtleut, verfluachte!“
 
Ludwig Ganghofer. Der Herrgottschnitzer von Oberammergau und andere Hochlandgeschichten. München Droemersche Verlagsanstalt 1952