Ohne Moos nix los
Am 19. September 1991 fand das Ehepaar Simon aus Deutschland im geschmolzenen Eis am Tilsenjoch unweit des Similauns eine männliche mumifizierte Leiche. Schon zwei Tage nach dem Fund meldete sich der Talgraf und Bergkönig Reinhard Messner zu Wort. Zufälligerweise waren er, der andere Extremkletterer Hans Kammerlander und der Sagenforscher Hans Haid zu diesem Zeitpunkt am Tilsenjoch verabredet. So konnten sie den „Jahrtausendfund“ hautnah auf sich wirken lassen: „um zwei Werte beneide ich Ötzi, um sein Wissen jenseits des Wissens – von der Ausstrahlung verschiedener Plätze zum Beispiel – sowie um die Freiheit des selbstverantwortlichen Nomadenlebens“. Nun hatte der Mann einen, wenn auch bescheuerten Namen: „Ötzi“, nach dem Fundort in den Ötztaler Alpen.
Mit diesen Namen geisterte er nun durch die bunten Blätter und Wissenschaftsjournale. Wer war er? Was wollte er hier oben? Wie starb er? Jäger, Sammler, Hirte, Schamane oder Händler? War er allein oder in einer Gruppe? Der Hype war da und wurde durch den Streit um den Aufbewahrungs- und Erforschungsort (Österreich oder Italien, jetzt liegt er in Bozen) und die Frage nach dem „Finderlohn“ noch weiter publikumswirksam angekurbelt. „Ötzi“ kannte jetzt jeder. Sogar ein DJ nahm den Namen auf und an und konnte damit so manchen Wiesnhit landen.
Seitdem sind Bücher und Filme über ihn Legion. Jedes Fitzelchen seiner Kleidung wurde untersucht, jedes Körperstück durchleuchtet und alle körpereigenen Inhaltsstoffe erforscht. Selten wurde ein Mensch so traktiert. Selten hat auch ein Ereignis die Forschung so in Schwung gebracht.
Als Haupthypothese dient die Vorstellung von „Ötzi“ als Jäger/Hirte. Diese Jäger-Thesen-Fraktion verweist auf seine intime Kenntnis des Raumes, in dem er sich bewegt hat. Zudem ging er wie die Pollenkonzentration im Darm belegt, sehr schnell bergauf. Nur die Moosreste in seinem Darmtrakt konnte man sich nicht so recht erklären. Essen kann man das Zeug ja nicht, das wusste der Steinzeitmensch besser als wir und als Verband taugt es auch auf der Haut eher als die inwendige Anwendung Erfolg versprach.
Die meisten Untersuchungen nähern sich dem Thema jedoch nur von einem Forschungsschwerpunkt oder einer oft schon im Ergebnis vorgefaßten These her an. Zwar gibt es viele Ansätze, die seine Kleidung, sein Essen und seine Ausrüstung erforschen und im Zuge der experimentellen Archäologie nachbauen (Schuhe, Waffen, Kleidung) und so Indizienketten entwickeln, ganzheitliche, diese Ergebnisse zusammenfügende Arbeiten gibt es jedoch wenige. Das glaubwürdigste und schlüssigste Forschungsergebnis bietet meines Erachtens der Archäologe Alexander Birnsteiner an. Dessen Buch „Der Fall Ötzi. Raubmord am Similaun. Versuch einer Rekonstruktion der Todesursache des Steinzeitmenschen.“ gebe ich deshalb hier zusammenfassend wieder.
In der Jungsteinzeit gab es mehrere bedeutende Feuersteinabbaugebiete, die von Bandkeramikern erschlossen wurden. Eines der wichtigsten nördlich der Alpen war Arnkofen. Von dort aus wurden Fertigprodukte wie Messer, Pfeilspitzen und Sicheln bis nach Niederösterreich und Prag transportiert. Arnkofen-Prag gilt deshalb als ältester europäischer Handelsweg, auf dem sich paneuropäische Strukturen wie Handel, Bergbau und Industrie ausbreiten konnten. Zur Lebenszeit Ötzis (ca. 3352-3175 v. Chr., wahrscheinlich, 3400-3352 v. Chr.) gab es mit der Chamer-, Horgen- und Altheimer-Kultur nördlich und der Remedello-Kultur südlich der Alpen weitere Zentren, die innereuropäischen Handel betrieben. Gleichzeitig mit dem „vorindustriellen“ Abbau von Feuerstein verbreitete sich mit der sog. „Mondsee-Kultur“ die Kenntnis der Verhüttung von Metallen, vornehmlich Kupfer, und der Fertigung von Beilen und Angelhaken.
Beides, Kupfer- wie Feuersteinfertigteile wurden bei „Ötzi“ gefunden. Doch woher kamen diese bzw. woher kam der Steinzeitmensch? Am Similaum konnte keine steinzeitliche Siedlung nachgewiesen werden. Geht man zudem davon aus, dass die Menschen der Steinzeit ortsnah erbrochene Steine bei sich hatten, so müßte Ötzi Feuersteine der Fundumgebung bei sich getragen haben. Das ist nicht der Fall. Auch findet sich dort keine Abbaustelle für Feuersteine. Nachweislich kamen seine Feuersteine (Dolch, Reparaturset, Pfeilspitzen) aus der Gegend von Ceredo in den
Monti Lessini bei Verona, 120 km von der Fundstelle entfernt. Auch Ötzis Kupferbeil ist unzweifelhaft der Remedello-Kultur dieser Gegend zuzuordnen. Was jedoch überrascht ist, dass sich ähnliche Fundstücke (Beile wie Feuersteine) auch im Chiemgau und im Salzburgerland/Mondsee gefunden haben. Es muss also ein Warenaustausch zwischen den Nord- und den Südalpen stattgefunden haben.
Tilsenjoch von Schnals aus gesehen, Foto HJHereth, www.fluchtwege.eu
Die Stelle am Hauslabjoch, an der Ötzi gefunden wurde, bildet ein Felsdach, das ca. 10 Personen Unterstand bieten kann. Feuerreste deuten daraufhin, daß Hirten, Jäger und auch Händler die Hochalpen regelmäßig benutzt hatten bzw. sich dort zumindest zeitweise aufgehalten haben. Das Hauslabjoch bietet einen idealen Übergang vom Südtiroler Schnastal/Vintschgau zum Tiroler Ötztal mit dem Abstieg zum Inn. Der neue Wissenschaftszweig der Alpinarchäologie konnte nachweisen, dass sich steinzeitliche Wanderrouten oberhalb der Waldgrenzen befanden (freie Sicht, relative einfaches Gehen). Flüsse wurden ebenso als vereinfachender Transportweg wahrgenommen.
Im Fall des Steinzeitmenschen Ötzi muss man deshalb annehmen, daß er aus der Gegend der Monti Lessini stammte. Doch was trieb ihn von dort fort? Aufgrund seiner Kleidung und Ausrüstung muss man davon ausgehen, dass er eine hohe Stellung bekleidet hatte. Er war entweder Händler oder Krieger. Darauf deuten seine Bärenfellmütze und sein Beil, das bei richtiger Handhabung eine tödliche Waffe sein konnte. Ötzi war mit 48 Jahren für seine Zeit verhältnismäßig alt. Als alten Mann darf man ihn sich aber dennoch nicht vorstellen, denn eine Alpenquerung zu Fuß war und ist kein alltägliches Unterfangen. Er muss diesen Weg öfters gegangen sein. Arsenspuren an seiner Kleidung und im Körper deuten darauf hin, daß er mit der Kupferverhüttung zu tun hatt. Er war somit aller Wahrscheinlichkeit nach ein Kupferprospektor oder Händler, der neue Kupfervorkommen erschließen sollte. Sein Beil belegt zweifelsfrei, daß er Handelswege zwischen Verona und Mondsee (via Inn) gekannt hatte und sich auf diesen bewegte.
Doch wie kam es nun zum Tod des Ötzi? Kupfer war eine kostbare Fracht, die als Rohware auf Ziegen, Hunden oder auf Kraxen transportiert wurde. Sie stellte also auch für Räuber ein begehrliches Gut dar. Das Hauslabjoch eignet sich gut für einen Überfall. Dafür spricht, dass „unser“ Steinzeitmensch kaum mehr funktionstüchtige Pfeile im Köcher hatte. Auch der Bogen, der bei ihm gefunden wurde, war noch nicht zu Ende bearbeitet. Die Kraxe, die er bei sich trug und seinen restliche Kleidung waren leer. Er wurde vermutlich nach seinem Tod hastig ausgeraubt. Mit dieser Einschätzung einher geht die Tatsache, dass sein wertvolles Beil nicht mitgenommen wurde. Da er diese gefährliche Reise nicht alleine antrat, könnte es sein, daß ihm seine Mitreisenden zu Hilfe kamen und ihn oder diese ihm das Beil als Grabbeigabe mitgaben. Was aus diesen und den Räubern geworden ist entzieht sich aller Kenntnis. Weitere Leichen wurden nicht gefunden. Vielleicht kommen sie und mit ihnen weitere Zeugnisse mit dem Rückgang des Eises zum Vorschein.
Hier setzt die These der rituellen Tötung an. War er wirklich auf der Flucht, wurde sein Dorf vielleicht gebrandschatzt und konnte er sich als einziger Überlebender in Sicherheit bringen? Hat er sich dann verstecken können? Wozu hat die Kette gedient, die er um den Hals getragen hat? Welche Funktion haben die Tätowierungen? So wird denn auch seine angedichtete Nähe zu dem keltischen Schamanen und Barden, Merlin, den Ratgeber an König Artus Hof scheinbar erklärbar. Belege, wonach der Tod auf eine rituelle Tötung rivalisierender Clans zurückzuführen sei, liefert der Film Noel Dockstader „Leichensache Haus Labjoch. Der Ötzi Mord“ (Arte, 10.10.2008). Blöderweise gibt es hier oben keine Dörfer in denen Menschen gewohnt haben – man hat sie jedenfalls noch nicht gefunden. Auch wäre eine solche Todesursache der einzige Beleg in dieser Epoche.
Erst in neueren Untersuchungen wurde festgestellt, daß sich in seiner linken Schulter eine Pfeilsitze befindet. Diese führte zu inneren Blutung und zum sofortigen Tod. Wer sie abgeschossen hat und warum wird vielleicht nie geklärt werden können.
Einen ganz anderen, aber auch mythisch belegten Ansatzpunkt legen die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth und der Sagenforscher Hans Haid zugrunde, den der Landschaftsmythologie. Hierzu ist es notwendig eine Landschaft als Summe von Sagen, mythologischen Vorstellungen, mündlicher Überlieferung, Kultplätzen, markanten Bergformen, Flurnamen etc zu erkennen. Eingebunden in diesen Ansatz ist Vorstellung, daß es vor der Männerkultur (Hirten, Jäger) es eine ältere, von Frauen getragene Kultur gab, die im Lauf der Jahrtausende von Männern und Religionen (Verchristlichung) zu ihren Zweck hin umgedeutet wurde. Spuren hiervon finden sich noch überall in Berg und Tal. Auch die Mythen sind weiter gegenwärtig.
Die Gegend, in der „Ötzi“ gefunden wurde, verweist auf eine 10.000 Jahre anhaltende Benutzung durch den Menschen hin. 6000 Jahre lang ist die dortige Weidewirtschaft nachweisbar. Solange wurden Schafe von den umliegenden Tälern auf die hochalpinen Almen getrieben und werden es auch heute immer noch auf den gleichen Wegen wie damals (Schaftriebe=Transhumanz). Dies ist in etwa auch der Zeitraum in dem Sagen und mündliche Überlieferungen tradiert wurden. Solange haben sich Namen und Mythen, Götterverehrung und Wallfahrten in dieser Gegen erhalten. Ötzi hätte nach dieser Quellenlage demnach in einer martriachalisch ausgerichteten Kultur gelebt.
Erstaunlich ist, daß sich an vielen Stellen der Transhumanz noch heute begehbare Kultstätten erhalten haben. Die bedeutendsten sind der „Hohle Stein“, die Kaser (Ahnfrau- oder Urmutterstein) und die Steinschnecke. Auch weniger offensichtliche Brandopferplätze, Schalensteine, Menhire und andere Kultplätze haben sich erhalten und sind in Koexistenz mit christlichen Wallfahrtsorten (Unser Liebe Frau in Schnals) getreten.
Unsere liebe Frau in Schnalstal, Foto HJHereth, www.fluchtwege.eu
Auch die Namen der Umgebung des Fundortes verweisen auf matriarchalische Ahnenverehrung hin: der noch heute gebräuchliche Name Tisen (Tisenjoch) verweist auf die drei germanischen Schicksalsschwestern, Annapurma und der Annakogel auf den jungsteinzeitlichen, im ganzen Europa verbreiteten Kult um die Göttin Dana (Anna), einer Frau die im Eis lebt und verschwundene Städte beschützt. Auch die wilden Frauen, deren Höhlen in Sagen lokalgenau verifiziert werden können und der Fruchtbarkeitskult um die Langtüttin, einer „Hexe“ mit extrem großen Brüsten gehört in dieses Mythenfeld.
Heute noch am präsentesten sind die Saligen Frauen. Jedes Kind im Tal kennt deren Geschichten. Wilhelmine von Hillern hat sie in die „Geierwally“ einfließen lassen. Ernst Krenek wurde von dieser Sage zu Teilen seiner Oper „Jonny spielt auf“ angeregt. Auch die Besteigung bzw. Nicht-Besteigung des Similauns, eines der mythenumranktesten Berges der Alpen, muss vor diesem Zusammenhang gesehen werden.
In mindesten drei Sagen aus dem Ötztal, einer der reichhaltigsten, altartigsten Sagen- und Kulturlandschaften im Alpenraum, wird von einem „verschwundenen Mann in Hinteren Eis“ berichtet. Alle diese Sagen stellen einen Zusammenhang des Verschwindens mit den Saligen Frauen her. Diese sind die „Herrinnen der Tiere“, die Beherrscherinnen der alpinen Hochregion, die ihren Wohnsitz im Similaun haben soll. Sie helfen, strafen aber auch. Diese leuchtenden, strahlenden (nicht seligen!) treten immer als Dreiheit auf und haben im Lauf der Zeit verschiedene Wandlungen durchlebt: von den Nornen (Schicksalsgöttinnen) über die römischen Parzen hin zum katholischen „Drei-Jungfrauen-Kult“ (Katharina, Barbara, Margaretha, den drei Frauen der 14 Nothelfer).
Haben sie „Ötzi“ bestraft, weil er ihren Rat nicht angenommen hat, wurde er deshalb rituell hingerichtet oder zu mindestes in diesen Sinn begraben? Auch dieser Ansatz verspricht keine eindeutige Klärung. Er weist aber auf die Nähe von Mythos und tatsächlichen Geschehen hin. Vielleicht werden mit den Abtauen der Gletscher von andere Funde realisiert, die helfen diesen Fragen umfassende Antworten zu geben.
Diese Anmerkungen wurden vor einigen Jahren geschrieben. Mittlerweile sind neue Erkenntnisse über die Herkunft und den möglichen Tod des Mannes aus dem Eis hinzugekommen und haben hinter den Puzzlestücken ein deutlcheres Bild entstehen lassen.
Geklärt ist die Herkunft von "Ötzi" also noch nicht. Dafür kursiert folgender Witz, der seine Provenience thematisiert: Aus Österreich kann er nicht kommen, dafür war sein Gehirn zu groß. Italiener kann er nicht gewesen sein, weil er Werkzeug dabei hatte. Möglicherweise war er Schweizer, weil nur die so langsam sind, dass sie sich auf einem Gletscher einholen lassen. Wahrscheinlich aber war er Deutscher, weil wer sonst würde mit Sandalen ins Gebirge gehen?
Den aktuellen Wissenschaftsstand kann man am besten im Ötzi Museum in Bozen erfragen. Zur Zeit (September 2016) findet gerade der "3rd Bolzano Mummy Congress" statt, der neue Forschungsergebnisse über "Ötzi" präsentiert und eine Rekonstruktion seiner Stimme versucht (Dies alles zum 25jährigen Findejubiläum, siehe auch "Süddeutschje Zeitung, 17./18.9.2016, 216, S.12)
Südtiroler Archäologiemuseum
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