Ich reise um des Reisens willens, zur Not auch mit Eseln
Ich reise um des Reisens willens. Worauf es ankommt, ist in Bewegung zu sein die Nöte und Haken unserer Existenz unmittelbar zu spüren; aus dem Federbett der Zivilisation zu steigen und zu entdecken, daß die Erde unter den Füßen aus Granit besteht und mit schneidenden Kieseln übersäht ist.
Am 22. September 1878 verläßt Robert Louis Stevenson, der später mit der „Schatzinsel“ und „Dr Jekyll und Mr. Hyde“ weltberühmt werden sollte, mit der Eselin Modestine den kleinen Ort Le Monastier-sur-Gazeille, um die Cevennen von Nord nach Süden zu Fuß zu durchqueren. Das Ziel in Saint-Jean-du Gard erreicht er nach 12 Tagen und 250 Kilometern. Dieses Reiseabenteuer, den etwas anderes ist es zu dieser Zeit noch nicht, hält er zunächst in einem 66-seitigen Tagebuch fest, das ein Jahr später in ausgearbeiteter Form als sein zweites Buch erscheinen sollte: „Travels with a Donkey in the Cevennes“.
Was verschlug einen jungen Schotten in diese abgelegene Gegend Südfrankreichs? Seine Freundin und spätere Frau Fanny Osbourne reiste im Sommer diesen Jahres nach Kalifornien, um die Scheidung von ihrem Mann einzureichen. Aus Liebenskummer suchte er eine möglichst einsame Gegend, um zur Ruhe zu kommen. Die Cevennendurchquerung wurde für den Zivilisationsflüchtling Stevenson zu einer Art Pilgerreise, bei der er die Ruhe der Klöster ebenso kennen und schätzen lernte, wie die der Natur.
Stevenson hat diese Gegend nicht grundlos ausgewählt. Vielmehr hat er sich nach intensiven historischen und geographischen Recherchen für diese weltabgewandte Gegend Frankreichs entschieden. Die Cevennen geben Zeugnis vom Aufstand der protestantischen Camisarden gegen Ludwig XIV., in dessen blutiger Niederschlagung er große Übereinstimmungen zu dem der schottischen Covenanter gegen Charles II. sah. So ist sein Bericht nicht das „einfache“ Erlebnis einer Wanderung, es ist eine Studienreise, die gleichsam als Spiegel der politischen Verhältnisse seiner Zeit dient und zudem eine neue Form der Fortbewegung darstellt: Wandern um des Wanders willen, „the pleasure of the thing was substantive“.
In zwei kurzen Erzählungen, die der „Eselswanderungen“ vorangehen, den „Fusswanderungen“ und „Eine Stadt in den Bergen“ erläutert Stevenson seine Vorstellungen vom Wandern und seine diesbezügliche Erwartungshaltung. Fusswanderungen bieten eine unendliche Kette von Vergnügungen, die man am besten allein genießen sollte. „Freiheit ist [dabei] von entscheidender Bedeutung“. Nur so kann man seinen eignen Rhythmus finden und offen werden für alle Eindrücke. Auch stellen sich damit die „rein tierischen Freuden, das Gefühl körperlichen Wohlbefindens“ ein: „man fühlt sich so rein und stark und so müßig“. Man beginnt Körper und Geist als sich wechselweise aufbauende und inspirierende Einheit zu verspüren. Im besten Fall erreicht man einen inneren Zustand, in dem man mit sich und der Umwelt in Einklang ist und in dem man sich damit begnügt was und wo man ist. Stevenson ist der Überzeugung so „Weisheit und Tugenden zu (er)kennen, glücklich zu sein und im siebenten Himmel der Zufriedenheit“ anzukommen. Was will man mehr? Auch ja, die passende Lektüre sollte man für die Wanderung auch mitnehmen. Stevenson empfiehlt in diesen Fällen u.a. Hazlitts Essays, die Lieder von Heine oder Tristram Shandy.
Die Cevennen sind eine ärmliche Mittelgebirgslandschaft, die sich zwischen Alpen und Pyrenäen von Nord nach Süd erstreckt. Da nicht die Möglichkeit bestand, ein für alle Bewohner genügendes Auskommen zu finden, flüchteten vornehmlich junge Leuten in die Städte oder verließen, erfüllt von „Abenteuerlust und dem Wunsch, es im Leben zu mehr zu bringen, ihr Land. Einer von ihnen wurde 1876 „Fechtmeister und Champion beider Amerika“. Andere schlossen sich einem Kloster an. Eine ganz ähnliche Entwicklung wie sie Stevenson aus dem heimischen Schottland vertraut war.
Er startete seine Wanderung in dem kleinen, gastfreundlichen Bergdorf Le Monastier, bestaunt und belächelt von der Dorfbevölkerung, denen dieses Unterfangen wie eine Reise zum Mond vorkam, beides noch nie versucht, utopisch, unsinnig und völlig sinnlos. Dennoch unterstützen sie ihn soweit sie konnten. Stevenson hatte einen klare Vorstellung, wie seine Ausrüstung beschaffen sein muss. Dahingehend besorgte er sich Schlafsack, Zelt und Regenschutz. Wichtig war ihm die Schokolade und der Cognac zur Belohnung der täglichen Mühen. Mit dem Esel und dem passenden Packzeug hatte er mehr Probleme. Auch waren seine Kenntnisse im Umgangs mit diesen Vierbeiner beschränkt. Sie sollten sich sehr bald im Lauf der Wanderung offenbaren.
Esel und Mensch mussten erst zusammenfinden. Der Rhythmus der Reise richtete sich nicht, wie Stevenson angenommen hatte, nach seinem Tempo, sondern nach dem des Esels. Die Ratschläge die er bekommen hatte, wie er ihn zu treiben hätte, erwiesen sich - als zumindest für seinen Esel – nutzlos. Erst als er einige Tage später von seinem Wirtsleuten einen Stachelstock erhält, geht es flotter voran. Bedenken gegen eine derartig blutige Behandlung seiner Weggefährtin plagten ihn da nicht mehr. Zudem erwies sich das Sattelzeug als wenig geeignet: Andauert verrutsche es und verursachte so ungewollte Pausen. Erst nach einigen Tagen konnte ein mit Eseln kundiger Bauer Abhilfe schaffen.
Die Wegerlebnisse schwankten von großartiges Ausblicken in wilde, menschenleere Landschaften bis hin zu dem Gefühl tödlicher Einsamkeit auf einzelnen Strecken. Selbstgewählte Einsamkeit führte auch die Insassen der von Stevenenson in den Cevennen besuchten Klöster zusammen, die dort vielfach in einem schweigenden Miteinander lebten. Ausführlich er beschriebt seine Aufnahme als „Pensionsgast“ im Trappistenkloster Notre-Dame-des Neiges, den dortigen Tagesablauf der Mönchen und ihre Gründe ihr Leben auf diese Art zu verbringen. Wenn möglich oder nötig hat er auch die Nächte im Freien in seiner Hängematte oder im Schlafsack verbracht. Manchmal übernachtete er auch in Gasthäusern, an deren Unterbringungsbedingungen er sich aber erst gewöhnen mußte. Einzelzimmer waren unbekannt und auf das unmittelbare Miterleben ehelichen Paarungsverhalten war er nicht vorbereitet. Auch die Beschaffung von Nahrung erwies sich trotz seiner Vorratshaltung als ungeplant schwierig.
Auf historischen Spuren wanderte und wandelte er schließlich im „Land der Camisarden“. um den Mont Lozere, den höchsten Berg der Cevennen, und bei Pont-de-Montvert. Der Ausdruck „Camisarden“ für die protestantischen Aufständigen der Cevennen leitet sich von deren Erkennungszeichen her ab, dem über den Waffen getragenen Hemd (camisa). Gebräuchlich war es seit 1702. Großer religiöser Eifer bis hin zu ekstatischen Prophetismus wurde ihnen nachgesagt. Sie wurde nicht nur von den regulären Truppen König Ludwigs XIV verfolgt, sondern auch von einer Milizarmee, den sog. „weißen Camisarden“, plündernden katholischen Banden, die ein Kapuzinermönche aus Barjac anführte und die ein weißes Kreuz auf ihrer Kleidung trugen. Ausführlich stellt in seinem Buch er einen historischen Zusammenhang zu den Glaubenskämpfen der schottischen Covenamter im 17. Jahrhundert her. Auch den Kriegsablauf bis hin zum Toleranzedikt von 1787 schildert Stevenson anschaulich, wobei er sich auf die Darstellung der herausragenden Persönlichkeiten und die wichtigsten Schauplätze, sowie der theologischen Ausrichtung der Camisarden (Mährische Brüder) beschränkt.
Nach 12 Tagen waren sie am Ziel in Saint-Jean-du-Gard angekommen. Für die Eselin Modestine war hier die Reise zu Ende. Die erlittenen Strapazen waren zu viel für sie. Für eine Weiterreise untauglich geworden musste Stevenson sie verkaufen. Erst jetzt bemerkte er die starke Bindung, die er zu ihr in diesen gemeinsamen Tage entwickelt hatte.