Die Schwabengängerei auf den „Sklavenmarkt“ in Ravensburg
Schwabenkinder nannte man bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts hinein die 6 bis 14 jährigen Kinder, die aus dem Vintschgau, dem Vorarlberg (Landeck, Stanzer-, Paznauntal) oder aus dem Montafon, jedes Jahr von Josefi (19. März) im Frühjahr bis Simon und Juda (28. Oktober) im Spätherbst an den Bodensee wanderten, um sich auf den dort stattfindenden Gesindemärkten als Hütekinder, Kindermädchen oder Stall- und Haushaltshilfe zu verdingen. Der größte und bekannteste dieser „Sklavenmärkte“ – so wurden sie z.T. auch schon damals bezeichnet - war der „Hütekindermarkt“ im schwäbischen Ravensburg (seit 1625 aktenkundig). Die Schwabengängerei aus Tirol endete 1914, aus anderen Gegenden erst in den 20er Jahren.
Kindermarkt in Ravensburg. Illustration von E. KLein in der Gartenlaube, Nr. 17, 1895
Die Armut der Eltern trieb sie schon so früh aus dem Haus. Für die kinderreichen Bergbauern war es oft die einzige Möglichkeit ihre materielle Not zu lindern. War doch auf diese Weise wenigstens ein Esser außer Haus, der zudem im Herbst dringend benötigtes Geld für den Winter mitbrachte.
Die „Schwabengängerei“ der Kinder, das „Fortziehern“ oder „Fremdgienern“, fand in Gruppen unter meist geistlicher Führung statt. Die schulpflichtigen Kinder wurden im Winter vom Lehrer gefragt, wer von ihnen dieses Jahr in die Fremde gehen will oder besser muss. Sie wurden dann von der Schulpflicht entbunden. In Schwaben bestand für die „Gastkinder“ keine Verpflichtung zum Schulbesuch. Dieser war nur für Einheimische gesetzlich geregelt
Verabschiedet wurde sich mit einem Glas Wein im Wirtshaus und einem letzten privaten Händedruck in einer der damals zahlreichen „Reahrkappala“ (= Weinkapellen, da in ihnen so viele Tränen vergossen wurden). Der Hinweg war gekennzeichnet von Hunger, Kälte, Schnee und Heimweh, der Rückweg voll Stolz auf das Erreichte und der Vorfreude auf das Wiedersehen mit Familie und Freunden. An den Pässen (Reschen-, Arlberg-, Fernpaß) standen meist Kapellen des als wundertätig angesehenen St. Christoph, dem Patron der Wanderer. Viele der „Fortzieher“ haben sich in diesen Kapellen heimlich einen Splitter von der hölzernen Heiligenfigur mit dem Taschenmessen abgeschnitten. Er diente als Glücksbringer und Talisman und sollte eine gesunde Heimreise bewirken.
Der Weg nach Schwaben dauerte oft bis zu 2 Wochen (150 bis 200 km Marschleistung für den einfachen Weg). Gasthöfe auf dem Weg dienten als Kontaktbörsen und Möglichkeit etwas billig zu essen zu bekommen. Mit Glück wurden sie von einem Pferdegespann ein Stück mitgenommen.
Einschiffung der Hütekinder in Bregenz, aus E. Klein: Tiroler Schwabenkinder in: Gartenlaunbe Nr. 17, 1895
Auf dem Rückweg leisteten sie sich, so sie ausreichend verdient und etwas gespart hatten, ein Teilstück mit der Eisenbahn.
Statt einem Rücksack hatten sie oft nur umfunktionierte Kartoffelsäcke, die sie am Rücken trugen. Die Kinder trugen dünne Jacken und zerschlissene Schuhe, die sie nur mangelhaft gegen Kälte und Nässe schützen konnten. Auf ihre Reise mussten sie zumeist frieren und hungern. Ihr Essen mussten sie sich Pfarrstellen, Hospizen oder bei Bauern erbetteln.
Für ihre Arbeiten erhielten die Kinder in der Regel „doppelten Häs“, zweifaches neues Gewand von Kopf bis Fuss. Wenn sie sich bei ihren Lohnherren beliebt machen konnten, haben sie oftmals zusätzliches Geld, Geschenke oder auch gebrauchte Kleider für sich oder ihre Geschwister bekommen. Usus war dies aber nicht. Die Arbeitszeiten unterlagen bis 1960 keiner gesetzlichen Bestimmung. Die Kinder mußten vom Morgengrauen bis in den Abend hinein arbeiten, oft bis an oder über ihre körperlichen Grenzen hinaus. Lediglich der Sonntagvormittag war für den Kirchgang freigestellt.
Ältere Kinder und meist auch schon deren Väter verdingten sich vornehmlich in der Schweiz, aber auch in der Steiermark, dem Rheinland oder Ungarn, als Maurer oder Schreiner. Eine geregelte Ausbildung gab es dabei nicht. Man(n) entwickelte sich vom Handlanger (sog. Pflaster- oder Mörtelbuben) mit den Jahren zum besser bezahlten Maurer. Die Männer blieben so lange von Zuhause fort, wie sie Arbeit fanden. Blieben sie jedoch über den Winter in der Fremde, galten sie als „lockere Vögel“, die das verdiente Geld verpraßt hatten. Den Frauen überließen die Männer durch ihre Abwesenheit die heimische Arbeit in Feld und Haushalt.
Dass dieser Kreislauf von Armut, Not und mangelnder (Schul-)Bildung auch unterbrochen werden konnte, zeigen die Lebenserinnerungen der jungen Magd Regina Lampert, die von 1864 bis 1874 zur Schwabengängerei gezwungen war. Auf über 400 Seiten in 8 Heften hat sie ihre harte Arbeit geschildert, aber auch das Glück, immer auf wohlgesonnene Arbeitgeber zu treffen und gewonnene neue Erfahrungen für sich positiv umsetzen zu können. Spätenstens seit ihrer Arbeit in der Ausflugsgaststätte „Maria-Grün“, der Feldkircher „Zecherklause“, dessen Betrieb auch in Thomas Manns „Zauberberg“ seine literarische Umsetzung gefunden hat, wird ihr bewusst, dass gesellschaftlicher Aufstieg mit harter Arbeit und dem nötigen Glück möglich ist.
Ich möchte mich an dieser Stelle bei der Projektkommunikation der "Schwabenkinder" für die Abdruckgenehmigung der gemeinfreien Illustrationen von E. KLein bedanken. Auf der diesbezüglichen Seite des Bauernhaus-Museums Wolfegg gibt es viele weitere Informatione zu dem Thema:
Bauernhaus-Museum Wolfegg
Vogter Str. 4
D-88364 Wolfegg
T.+49(0)7527-9550-0
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www.schwabenkinder.eu