Die Mutter eines Bettnässers zeigt Flagge
„Heldenplatz“ – 1988, 50 Jahre nach der Heimholung ins Reich, was war das für eine Hetz, wie der Österreicher sagt. Zum Sturm auf die „Burg“ wurde geblasen, die Absetzung des Stückes und die Vertreibung des Piefkes Claus Peymann und des Netzbeschmutzers Thomas Bernhard wurden öffentlich gefordert, von einem literarischen Staatsstreich war die Rede. Starker Tobak für ein kleines Land mit unterdrückter, unbewältigter Vergangenheit. Nicht Kunst im (geschlossenen) Raum, sondern der Autor wurde plötzlich selbst zur multimedialen Figur.
Nach „Heldenplatz“, schon im Endstadium seiner Lungen- und Herzkrankheit geschrieben, „was´s vollkommen aus“, da konnte und wollte er auch nichts mehr schreiben. Die Wut über die österreichischen Zustände waren schon seit jeher die Antriebsfedern seines schriftstellerischen Schaffens gewesen. „Reiz-Reaktionsspiel“ hat er diesen Zustand und die Reaktionen darauf einmal genannt, ähnlich den Abreaktionsspielen, Orgien-Mysterien-Theatern und ähnlichen Bewältigungsprovokationen der Wiener Aktionisten Brus, Nitsch, Mühl u.a. Auch bei Bernhard floß Blut, doch meist nur auf dem Papier oder auf der Bühne und es gerann dort meist innerlich. Wie ein Menschenmetzger oder Kannibale hat er skrupellos seine Mitmenschen auseinandergenommen, sie in ihre Bestandteile zerlegt. Sich selbst hat er bei diesem Prozeß nicht ausgeschlossen: Selbstzerfleischung, „Auslöschung“ ist ein durchgängiger Topos in Bernhards Leben und Werk.
Doch woher kommen die ständigen Mitinszenierungen seiner Krankheitssymptome, sein Staatsekel und Geschichtshaß her? Vieles davon mußte er, wenn es ihm schon nicht in die Wiege gelegt wurde, so doch von früher Kindheit an erdulden. Bernhard durchlief wie die meisten Kinder seiner Zeit die „Vorhöllen“ der staatlichen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen, zunächst des autoritären österreichischen Ständestaats und dann, nach Anschluß und Umsiedlung nach Deutschland, die des NS-Regimes und schließlich nach dessen Auflösung die nicht weniger einschränkende Erziehung klerikaler Internate. Die Institutionen änderten sich, die Fähnlein wechselten, inhaltlich änderte sich nichts (und niemand). Doch im Gegensatz zu vielen anderen durchlitt Bernhard in diesen Institutionen eine tiefgreifende Verletzung seines Ichs, die, wenn auch im Faktischen nur ansatzweise wiedergegeben, im Emotionalen doch sehr anschaulich in seinen Jugendromanen zum Tragen kommt und so für den Leser nacherlebbar wird.
Das uneheliche Kind lebte von Herbst 1931 an bei seinen Großeltern in Wien, um dann ab 1935 für drei Jahre die glücklichste Zeit seiner Kindheit in Seekirchen im Salzburger Land zu verbringen, dem märchenhaften „Riesenreich, in dem die Sonne nie unterging“. 1938 wird er aus seinem „Paradies“ vertrieben. Er muß mit seiner Mutter und deren neuen Mann nach Traunstein umziehen. Die Großeltern folgen ins benachbarte Ettendorf nach. Traunstein wird für den Jungen zur Katastrophe, zur traumatischen Erfahrung. Fremd und arm wird der Schulweg zum täglichen Gang zu seiner Hinrichtung. Die Hänseleien der Mitschüler, das auf Überwachen und Strafen basierende Schulsystem und die ständigen körperlichen und psychischen Verletzungen durch seine Mutter lassen in ihm früh (mit 7 Jahren) Gedanken an einem Selbstmord aufkommen. Nur in ihm scheint sich Bernhard diesen Qualen entziehen zu können. Doch es bleibt bei den Gedankenspielen. Diese finale Hoffnung läßt ihn auch die Demütigungen im Heim für schwererziehbare Kinder im thüringischen Saalfeld, dem staatlichen Internat in Salzburg und die als Straf- und „Menschenvernichtungsmaschine“ empfundenen Heilanstalten Großgmain und Pongau überstehen.
Hier, in Traunstein, erwächst der später immer wieder formulierte Vorwurf an seine Angehörigen – vornehmlich an seine Mutter – „völlig alleingelassen“ und „aus dem Kopf und aus der Hand in die staatliche Züchtigung gegeben“ worden zu sein. Das Gefühl des umfassenden Ausgeliefertseins und der damit verbundenen öffentlichen schambeladenen Entblößungen haben sich ihm tief eingeprägt. Möglicherweise haben viele junge Menschen in dieser Zeit ähnliche Erfahrungen gemacht, die „Gnade der späten Geburt“ vermag einem hiervon nur ansatzweise eine Vorstellung zu vermitteln. Bernhards rotes Tuch wurde sein weißes: immer dann, wenn das gequälte Menschlein wieder ins Bett genäßt hatte, hing seine Mutter zur allgemeinen Erheiterung der Nachbarschaft und zur Demütigung des Kindes das durchgepinkelte Laken wie eine Fahne aus dem Fenster. Fahnenappell der etwas anderen Art.
Thomas Bernhards Wohnhaus in Traunstein, Bildrechte HJHereth, www.fluchtwege.eu
Im Heim war es nicht viel besser. Dort wickelte man ihm zur Ergötzung der Mitschüler die kotbeschmutzten Laken als Turban um den Kopf und behandelte öffentlich seine wundgewetzten Stellen an Hoden und Oberschenkel mit weißen Puder. Staats- und Familienterror bleiben sich nichts schuldig. Nicht sie, sondern der „Nichtsnutz“ war „an allem schuld“.
Das Daueropfer Bernhard fand ein einziges Mittel zum Überleben: seinem vom Großvater geförderten und an ihm geschulten Verstand. Mit ihm war es Bernhard möglich, „das Gleichgewicht der Zusammenhänge, die ihm verlorengegangen waren, wieder herzustellen“. Bernhard „war immer nur froh zu überleben. Es ist mir nichts anderes übriggeblieben, als mich in meinem Verstand zu flüchten und mit dem irgend etwas anzufangen, weil das Körperliche nichts hergegeben hat. Das war leer“. So begegnet man im Werk von Bernhard immer wieder den Monologen von Geistesmenschen, die ihre Existenz in einer Welt zerbrochener Beziehungen mit dem Kopf zu beherrschen suchen.
Geistige Freiheiten erlebt Bernhard vor allem bei seinem Großvater mütterlicherseits, dem Schriftsteller Johannes Freumbichler, dem „Heiligen vom Ettersberg“. Poesie und Rebellentum, Armut und Anarchie prägen diesen Zweig von Bernhards Stammbaum. Freumbichlers Bruder wollte Jäger werden und wurde doch nirgends bebraucht. Er wollte „nach Italien, dort ist es warm, in die Berge, wenn du frei sein willst – Frei bis zum Tod“. Konsequenterweise beschritt er diesen Weg 1902. Selbstmordgedanken waren auch Bernhards Großvater nicht fremd. Er hatte sich entschieden, unter widrigsten Umständen seine dichterischen Neigungen auszuleben. Immer am Rand des Existenzminimum balancierend, das endgültige Scheitern seines Lebensideals vor Augen, ein körperliches Wrack, die Last des täglichen Erwerbs auf die Schultern seiner „Lebensgefährtin“ packend, entwarf Freumbichler ein literarisches Werk, das dem Thomas Manns nicht nachstand. Das meiste davon blieb zeitlebens unveröffentlicht. Für einen Roman erhielt er jedoch den österreichischen Staatspreis und kommte von dessen Ausschüttung auch eine Zeitlang die Familie am Leben erhalten. Die Hoffungen, die er an seine Kinder herangetragen hat, erfüllten sich nicht. Seine Tochter Herta Bernhard, Thomas Bernhards Mutter konnte auf Grund eines Unfalls nicht die ersehnte und erwünschte Karriere als Balletteuse beginnen, sondern mußte ihr Leben als Haushaltshilfe fristen. Sein Sohn Farald wurde Handwerker und Kommunist, wurde Erfinder und blieb unkonventionell. Zum ihm nach Salzburg zog es Bernhard bei der beschriebenen Radflucht (Fahrrad-Farald!) hin.
Nun die Kinder, für die Freumbichler immer das „Höchste im Auge“ hatte, konnten seine Erwartungen nicht erfüllen. Aber es gab ja noch den Enkel. Und dieser kompensierte (beim Großvater und in dessen Reich der Vernunft), was ihm anderswo versagt blieb. Bernhard setzte gewissermaßen die Existenz seines Großvaters fort. Er übernahm nach seinem Tod dessen Schreibmaschine, die Wandertasche, in der dieser die Schreibutensilien auf den täglichen Spaziergängen verstaute, aber auch dessen Krankheitsbild und Lebensmaxime. Wie er blieb Bernhard ein kränkelnder, unzeitgemäßer, nicht in seiner Zeit heimischer Einzelgänger. (Be-)Ständiges „Gehen“, so einer seiner Buchtitel, Voranschreiten, Gehen und Sprechen, Rhythmus und Form, die sich aus der gleichmäßigen Bewegung ergeben, blieben Eigenschaften seiner literarischen Sprache, die sich aus den Spaziergängen mit dem Großvater heraus entwickelt haben.