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Bricha

„Bricha-Marsch“ durch die Krimmler Tauern

„Bricha“, das hebräische Wort für Flucht, bezeichnet die bei uns weithin unbekannt gebliebene illegale Massenauswanderung von Juden nach Israel. Die gleichnamige Fluchthilfeorganisation gründet sich bereits 1944/45 in Ostpolen und Litauen. Ihr Ziel war es den 1945 aus den Lagern befreiten Überlebenden des Holocaust, den sog. DP ( = displaced persons) und den von anhaltenden gewalttätigen antisemitischen Übergriffen fliehenden osteuropäischen Juden in Israel eine Heimat zu schaffen – auch gegen den Willen der Mandatsmacht England. „Bricha“ schuf deshalb ein weitgespanntes Netzwerk von Routen quer durch Europa. Drehscheibe hierfür wurden Salzburg und Wien. In formaler Illegalität arbeitend, gelang es „Bricha“ rund 50.000 der rund 250.000 ausreisewilligen Juden von Österreich aus über die Alpen nach Italien zu schleusen. Erst im Mai 1948, mit der englischen Abgabe der Mandatschaft und der Teilung Palästinas, endete die illegale Einwanderung und die Notwendigkeit die Hilfe der „Bricha“ und anderer gleichartiger Organisationen in Anspruch nehmen zu müssen.
 
Das Schicksal der über zwei Jahre andauernden Fluchtaktivitäten war vorwiegend von der politischen Großwetterlage abhängig. Die Sowjetunion begünstigte in ihrer Einflusszone die Ausreise der jüdischen Flüchtlinge, um Englands Stellung im Nahen Osten zu schwächen. Frankreich als Besatzungsmacht in Tirol und Vorarlberg ließ keine klare politische  Linie erkennen; mal ließen sie die Flüchtlingskonvois über die Grenze passieren, das nächste Mal sperrten sie die Grenzübergänge. Die größte Unterstützung erfuhr die Bricha von den USA. Salzburg war das Hauptquartier der amerikanischen Besatzungsbehörde in Österreich. Dies und die Nähe nach Italien ließen Salzburg zum Fluchtknotenpunkt werden.
 
Die Bricha-Zentrale war zunächst im Augustiner Bräu im Salzburger Stadtteil Mülln untergebracht, anschließend neben dem DP-Lager Riedenburg in der Neutorstraße 25. Das Salzburg der Nachkriegszeit war mit einem Netz von 16 Flüchtlingslagern überzogen. Jüdische DPs waren seit Herbst 1945 in eigenen Lagern untergebracht. Diese standen unter der Oberhoheit der amerikanischen Besatzungsbehörde und wurden in Selbstverwaltung geführt. Es gab 5 ständige Lager, von denen vier als Transitlager geführt wurden. Lediglich eines war ein permanentes Lager. In ihnen gab es z.T. Lehr-Werkstätten, Schulen und Kindergärten. Großer Wert wurde auch auf die kulturelle Betreuung gelegt. Die US-Armee und der UNRRA übernahmen die Versorgung.
 
Die Zahl der jüdischen DPs war starken Schwankungen unterworfen. Einen dramatischen Anstieg erfuhren sie durch den „polnischen Exodus“ 1946, ausgelöst durch ein Pogrom im polnischen Ort Kielce, bei dem 42 Juden ermordet wurden, und der Hungerflucht von 30.000 rumänischen Juden im Jahr 1947. Insgesamt kamen zwischen Mai 1946 und Januar 1947 63.000 jüdische Flüchtlinge durch Salzburg.
 
Kommandant (1945 bis 1947) der „Bricha“ für Österreich war der 1921 in Wien als Arthur Piernikarz geborene Asher Ben Natan. Nach seiner Auswanderung nach Palästina (1938) kehrte er 1945 als „Journalist Arthur Pier“ in seine Geburtsstadt zurück, um von dort aus die Fluchtrouten durch Österreich zu erkunden und den Massenexodus zu organisieren. In den folgenden Jahren hatte er verschiedene hochrangige Funktionen bei der israelischen Regierung. Ben Natan war u.a. der erste Botschafter Israels in Deutschland (1965-1970).
 
Das Fluchthilfesystem basierte im wesentlichen auf der Orts- und Personenkenntnis seiner Helfer. Diese hatten die für ihren Abschnitt relevanten Fluchtwege zu erkunden, kümmerten sich um gefälschte Dokumente, Verpflegung, Unterkunft und die Bestechung von Grenzbeamten. Viktor Knopf war einer von ihnen. Er führte im Sommer 1947, nach der Sperrung der bisherigen Fluchtrouten durch Engländer und Franzosen, ca. 5000 jüdische Flüchtlinge auf einer der gefährlichsten und spektakulärsten Routen über die österreichische Grenze nach Italien: über den 2634 m hoch gelegenen Krimmler Tauern.
 
Viktor Knopf wurde 3 Tage, am 28. August 1939, nach dem Erhalt seines staatlichen Diploms als Turnlehrer, in seiner Heimatstadt Teschen in Schlesien von deutschen Soldaten festgenommen und interniert. Sein vom Sport trainierte Körper und ein enormer Überlebenswille ließen ihn die Lager Llublin und Auschwitz überleben. Im Mai 1945 wurde er von den amerikanischen Streitkräften in Ebensee befreit. Zur Erholung wird er in das Auffanglager Riedenburg in Salzburg geschickt. Deutschsprachig, blond und bergerfahren wird er von der „Bricha“ entdeckt und schließt sich ihr als Fluchthelfer an.
 
Grundvoraussetzung für die Auswahl der Flüchtlinge war ein gewisses Maß an körperlicher Fitneß. Es wurden eher junge als ältere Menschen mitgenommen. Bergerfahrung hatte keiner. Auch ihre Ausrüstung äußerst mangelhaft: kein festes Schuhwerk, keine Stöcke, kein Regenschutz, wenig Proviant. Leichtes Gepäck war Grundvoraussetzung für die 15-stündige Wanderung. Viele der Flüchtlinge trugen dennoch ihre Kinder in Rücksäcken oder auf den Schultern. Zudem gab es Probleme bei der Kommunikation. Die Flüchtlinge aus Rumänien, Polen oder Russland verstanden ihre deutschsprachigen Führer nicht. Ein einfaches „Gemma“ mußte zur Fortsetzung der Flucht genügen.
 
Der Fluchtablauf gestaltete sich zumeist immer gleich. Die Flüchtlinge wurden per Bahn oder Bus von Salzburg nach Saalfelden in das dortige DP-Lager Givat Avoda, der heutigen Wallner Kaserne, gebracht. Dort wurden die gehfähigen Personen für den Weitertransport aussortiert. 2-3 mal die Woche ging das so. Gegen 22 Uhr wurden 150-200 von ihnen auf der Ladefläche von 4 Lastwagen nach Krimml gefahren. Im letzten Haus vor den berühmten Krimmler Wasserfällen stiegen sie aus und setzen den Weg zum Krimmler „Tauernhaus“ (1600 m Höhe) zu Fuß fort. Ein Führer gefang sich am Anfang der Gruppe, einer am Ende. Der Proviant und manchmal auch Kleinkinder wurden mit dem einachsigen Pferdekarren der Pächter des „Tauernhauses“ dorthin gebracht. Der in 3 Stunden gehbare Weg dauerte für viele doppelt so lange. Für die landschaftliche Schönheit der Wasserfälle und des Krimmler Achental hatten sie keine Muße. Sie sahen sie wegen der Dunkelheit auch nicht. Lampen konnten sie auf dem ganzen Weg als Vorsichtsmaßnahme vor Entdeckung nicht benutzen. Gegen 7 Uhr in der Frühe erreichten die meisten das „Tauernhaus“. Dort hatten sie bis gegen 16 Uhr Zeit zur Erholung und Verproviantierung. Den anstrengendsten Weg hatten sie aber noch vor sich: die 1000 Höhenmeter zum Krimmler Tauern. Von dort stiegen sie nach Italien ins Südtiroler Ahrntal ab. Weit nach Mitternacht wurden sie im dortigen Gasthof „Kasern“ oder in einem als Erholungsheim angemieteten Bauernhof untergebracht. Der Weitertransport erfolgte von hier aus mit amerikanischen Rot-Kreuz-Wagen nach Meran und von dort weiter auf verschiedenen Routen zu italienischen Hafenstädten.
 
Mit dem ersten Schneefall war dieser Weg nicht mehr gangbar. Erstaunlicherweise gab es bei all den Überführungen keine nennenswerten Unfälle. Den Weg wollte aber keiner der Teilnehmer freiwillig noch einmal gehen. Erst Jahrzehnte später organisierten sich ehemalige Flüchtlinge um ihren Fluchtweg bei Tageslicht zu begehen. 50 Jahre später wurde am Krimmler Tauernhaus eine Tafel zum Andenken der Flüchtlinge und ihrer Helfer eingeweiht. So lange dauerte es auch um die Leistung der „Bricha“ wieder bewußt zu machen und aufzuarbeiten. Im Juli 2008 fand auf diesem Weg das 2. Alpine Peace Crossing, die APC-Friedenswanderung statt, um an die 40 Millionen Menschen zu gedenken, die sich weltweit auf der Flucht befinden. Auch das teatro caprile beschäftigt sich u.a. mit diesem Thema. Die Wanderer gehen zusammen mit den Schauspielern und Performenrn diesen Weg und erfahren ihn so auf ganz eigene Weise neu. Auf den Spuren der jüdischen Flüchtlinge (bzw. illegalen Auswanderer) von 1947 (!!!) im Krimmler Achental (Salzburg)https://www.teatro-caprile.at/index.php/40-produktionen/produktionen-2021/76-an-die-grenze-2021

 
Weiterführende Literatur
Asher Ben Natan: Die Bricha – aus dem Terror nach Eretz Israel. Ein Fluchthelfer erinnert sich. Droste, 2005
Thomas Albrich (Hg.): Flucht nach Eretz Israel. Die Bricha und der jüdisches Exodus durch Österreich nach 1945, Innsbruck, 1998
Thomas Albrich: Wir lebten wie sie. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg, Haymon Verlag, Innsbruck 1999
Thomas Albrich: Exodus durch Österreich. Die jüdischen Flüchtlinge 1945-1948. Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte Bd.1. Innsbruck 1987
Thomas Albrich (Hg.): Flucht nach Eretz Israel. Die Bricha und der jüdische Exodus durch Österreich nach 1945. Österreich-Israel-Studien Band 1. Innsbruck-Wien 1998
Bricha  - die Flucht. 11.08.2008, 22.25 Uhr, 3sat, Dokumentation von Andreas Gruber, in: Kreuz & Quer. Dokumentation Kultur: Zeitgeschichte von 1945-1989, ORF 2008
Erste Pucher Geschichtswerkstatt. Zur Geschichte des Lagers Puch. In: Salzburg. Geschichte & Politik. Mitteilungen der Dr.-Hans-Lechner-Forschungsgesellschaft, 11.Jg., Heft 3A, Juli-September 2001
Marko M. Feingold: Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Eine Überlebensgeschichte. Hrsg. von Birgit Kirchmayr und Albert Lichtblau. Wien 2000
Udo Kühn (Hg.): Krimmler Tauernhaus 1631m. Erbach-Bullau 2000
Udo Kühn (Hg.): Der alte Krimmler Tauernweg. Erbach-Bullau 1998
Stan Nadel: Ein Führer durch das jüdische Salzburg. Salzburg und Wien 2005
Harald Waitzbauer (Hg.): Das Krimmler Tauernhaus und seine Umgebung in Geschichte und Gegenwart. Neukirchen am Großvenediger 2000