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Carl Lehmann - Lenin

Der „Waldmeister“, der „Lederstrumpf“ und die Wahrheit der Berge

Seit dem von Bismarck initierten „Sozialistengesetzt“ von 1877 war die Verbreitung sozialdemokratischer Schriften und die Arbeit für die SPD illegal und unter Strafe gestellt. Blätter wie der „Socialdemokrat“ und die „Rote Feldpost“ wurden illegal in Deutschland hergestellt und vertrieben oder aus dem benachbarten Ausland nach Deutschland geschmuggelt. Einer der bekanntesten Sozialisten Prozesse fand in Freiburg im November 1888 statt. In ihm war auch Carl Lehmann (geboren am 8.7.1865 in Offenbach) einer der 15 Angeklagten. Neben Lehmann wurden lediglich zwei weitere Angeklagten freigesprochen. Die anderen erhielten Haftstrafen.

Carl Lehmann, Foto aus Ernst Bäumler: Verschwörung in Schwabing. gemeinfrei
„Der Lederstrumpf“, sogenannt nach dem Beruf seines Vaters (Gerber, später Besitzer einer Gerbereifabrik in Offenburg) engagierte sich schon früh aus Opposition zum konservativen Vater in der SPD. Unstet, verschiedene Berufe an verschiedenen orten ausprobierend, immer am Rande der Legalität lebend, da er weiterhin die sozialistische Propaganda unterstützte, und dem zwischenzeitlichen notwendig gewordenen Exil in Zürich, landete Lehmann schließlich in Hamburg. In einer dort ansässigen Gerberei organisierte er den Vertrieb der „Roten Feldpost“. Dem Strafprozeß nach Aufdeckung dieser illegalen Tätigkeit entzog er sich durch die Flucht nach Mitteldeutschland. In Halle studierte er zunächst ein Jahr Bergbau und Landwirtschaft, bevor er zum Medizinstudium 1890 nach Straßburg übersiedelte. 1893 nahm er als einer von 40 deutschen  Delegierten am ersten Sozialistenkongreß in Paris teil. Ab 1895 war er in München inscribiert und schloß 1897 das Medizinstudium mit der Promotion ab.
 
Die Entscheidung sich in München niederzulassen hatte mehrere Gründe. Zum einen erlaubte die „königlich bayerische“ Sozialdemokratie, diesen Namenszusatz trug sie wirklich, ein relativ einvernehmliches Miteinander aller Gesellschaftsschichten („leben und leben lassen“), zum anderen lebte in München mit Franz von Winckel der Gönner der Medizinstudentinnen. Dessen Protektion erleichterte Hope Bridges Adam-Lehmann, seiner Frau, die Berufsausübung. Zudem war München das Zentrum der Frauenbewegung. Mit Anita Augspurg und ihrer Lebensgefährtin verband sie eine tiefe Freundschaft. Auch Lehmanns Schwester Maria und deren Ehemann, der Schriftsteller Franz Blei, lebten in München. Doch nicht zu letzt die Bergleidenschaft von Lehmann war es, die mitentscheidend für ihre Niederlassung in dieser Stadt war.
 
Mit seiner Frau eröffnete er in der Gabelsbergerstraße 20a in München eine Arztpraxis mit großer angeschlossener Wohnung. In diesem gastfreundlichen Haus verkehrten u.a. viele russische Emigranten wie der Anarchist Dr. Alexander Helphand, gen, Parvus, (Herausgeber des gesamtrussischen Zeitung für Deutschland: „Iskra“), das Ehepaar Lenin-Uljanow und Clara Zetkin mit ihren Söhnen. Für Lenin bildete nach seiner erzwungenen Emigration aus Rußland 1900 die Praxisanschrift dessen  Deckadresse in München. Bei der Besorgung von Lenins Münchner Wohnungen (Kaiserstraße 53, Schleißheimerstraße und schließlich Siegfriedstraße 14) war das Ehepaar Lehmann ebenso behilflich wie bei Lenins Rückkehr nach Rußland 1914.
 
Schon 1890 war Lehmann dem Alpenverein beigetreten. In Halle, wie in Straßburg, gehörte er den örtlichen Sektionen an. Nach seinem Beitritt zur „Section Oberland“ (1900, München) wurde er schnell in den dortigen Vorstand berufen. Die Mitglieder des Alpenverein rekrutierten sich im Gegensatz zu den Naturfreunden (Arbeiterschaft) meist aus eher bürgerlichen Berufen. Ihr Ziel war die Erschließung der Alpen, um die Berge für alle Schichten zugänglich zu machen. Auch Arbeiter konnten nun kostengünstig ihre Freizeit in der Natur verbinden. Aber erst die Bereitschaft des Hochadels, seine hochalpinen Jagdgründe zu öffnen, ermöglichte den notwendigen Hüttenbau und die Anlage von Wegen. Außerhalb der Wege galten Wanderer bei den Förstern immer noch als potentielle Wilderer. So wurde eher schnell geschossen als lange gefragt.
 
Am Lamsenjoch im Karwendel befand sich die Hochweide des Benediktinerklosters Fiecht (Schwarz in Tirol). Das Kloster hatte in diesem weiten Gebiet das Wege- und Jagdrecht. Als glücklichen Zufall erwies es sich, daß Lehmann in dem wanderbegeisterten Pater Leo, dem „Waldmeister“ und Wirtschaftsleiter des Kloster, einen Gleichgesinnten fand. Mit ihm konnte er einen Pachtvertrag schließen, der den Bau der Hütte und die Erschließung des Lamsenjochs ermöglichte. Die Baukosten wurden durch Spenden realisiert. Alle Materialien mussten mit Mulis oder auf den Rücken von Trägern von Schwarz aus auf das Lamsenjoch geschafft werden. Trotz der aufwendigen Erschließung konnte schon 1906 die Hütte eingeweiht werden. Zwar wurde diese Hütte 1908 von einer Lawine zerstört, doch wurdesie schon im selben Jahr wiederaufgebaut.
 
Diese enge Kooperation von katholischem Klerus und linker Arbeiterbewegung war einzigartig und lebte sicherlich von der verbindenden Freundschaft von Lehmann und Pater Leo. Auf dieser und anderen Hütten fanden sich in zwangloser Form Geistlichkeit, Adel, Bürgertum, Arbeiter und linke Revoluzzer (Lenin), Maler und Schriftsteller zusammen. Sie alle verband das Erlebnis der Alpen. Wenn man sich kennt und gemeinsame Ziele verfolgen kann, sich in Seilschaften auf den anderen verlassen muß, bekommt auch der vermeintliche Klassenfeind ein menschliches Antlitz.
 
Ebenso wie mit Pater Leo verstand es der Ortsfremde Carl Lehmann schnell, sein Haus in der Gabelsbergerstraße 20a zu einem Kristallisationspunkt verschiedener Schichten und „Glaubensrichtungen“ zu machen. Durch die „bunte“ Mischung seiner Gäste entstanden Kontakte und Netzwerke, deren Zusammensetzung zumindest ungewöhnlich war. Hier wohnten Clara Zetkins Söhne Maxim und Kostja, trafen sich hiesige Sozialdemokraten (so der nachmalige Bürgermeister von München Eduard Schmid, dem Mitinitiator für Hoegners (LINK Flucht) mit russischen Revolutionäre und dem Münchner Bürgertum. Auch in seinen politischen Ämtern als Landrat (1906-11)  und Münchner Gemeindebevollmächtigter (1909-15) suchte Lehmann engen Kontakt zu allen Schichten der Bevölkerung.
 
Lehmanns Erfahrungen aus der Zeit des sozialdemokratischen Untergrunds begründeten auch seine Unterstützung Lenins. Er gewährte ihm nicht nur eine Deckadresse und stattete ihn und seine Frau mit wechselnden Wohnungen in München aus, in seiner Wohnung fanden die regelmäßigen Donnerstags-Treffen der „Iskra“-Redaktion statt. Angst vor Entdeckung war für Lehmann ein Fremdwort, die Freude an der Konspiration ein Lebenselixier.
 
Mit Parvus unternahm er im Frühjahr 1899 auf Anregung von Rosa Luxenburg eine ausgedehnte Forschungsreise durch Russland um auf die dortigen, immer wiederkehrenden Hungersnöte der Kleinbauern,, bedingt durch das oligarchische System, aufmerksam zu machen. Lehmann wollte die „Wahrheit“ mit eigenen Augen sehen. Zusammen besuchten sie neben St. Petersburg und Moskau und das gesamte Wolgagebiet bis Kasan. Ihre Eindrücke und Erlebnisse legten sie 1903 in dem Buch „Das hungernde Rußland. Reiseeindrücke“ nieder. Lehmann war in dem Buch für den medizinischen Teil verantwortlich. Mit seinem Buch und dem sich darauf gegründeten „Deutschen Hilfscomitee für die politischen Gefangenen und Verbannten Russlands“ öffnete er auch anderen die Augen gegen dieses System aktiv zu werden: als Unterstützer gewann er u.a. die gestandenen Sozialdemokraten Georg von Vollmar und Adolf von Müller ebenso wie die Dichter-Jäger Ludwig Thoma und Ludwig Ganghofer (LINK).
 
Lehmann starb am 8.4.1915 als Kriegsfreiwilliger Stabsarzt in Valenciennes an einer Blutvergiftung als „Menschenfreund im besten Sinn“.
 
 
Hope Bridges Adams wurde am 17.12.1855 in London als Kind eines Eisenbahningenieurs geboren. In Leipzig studierte sie Medizin. Gleichzeit war sie als Übersetzerin u.a. für August Bebels „Frau“ tätig. Gemeinsam mit ihren Mann Dr. Otto Walther betrieb sie in London und später in Frankfurt a.M. eine Arztpraxis. Aus gesundheitlichen Gründen ließen sie sich auf Vermittlung des Offenburger Sozialisten Adolf Geck in Brandeck auf der Villa Strehlau (= Villa Brandeck) als Kurärzte nieder. Dort lernte sie nicht nur Carl Lehmann kennen, sondern freundete sich mit Clara Zetkin und August Bebel, die dort zur Kur waren, an. Ihre Hochzeit mit Lehmann wurde möglich, da Walther sich in die Tochter des dänischen Nobelpreisträgers und Bebel Freundes Frederik Bayer/Bajer verliebte und diese nach seiner Scheidung von Hope heiratete. Hope Bridges Adam engagierte sich in München sehr für das Selbstbestimmungsrecht der Frau, einschließlich deren Recht zur sozialen Indikation. Ausschlaggebend für ihr Eintreten war die hohe Mütter- und Säuglingssterblichkeit vor allem bei sozial niederen Schichten. Dieses Engagement trug ihr ein Verfahren wegen gewerbsmäßiger Geburtshilfe ein, das jedoch eingestellt wurde. Auch ihr gemeinsamer  Kampf für die freie Arztwahl war zu dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit.
 
Hope Brigdes Adams Lehmann war die erste Frau, die in Deutschland (1880 in Leipzig) ein medizinisches Staatsexamen ablegen durfte, das aber erst 1904 in London anerkannt wurde und sie zur offiziellen Approbation berechtigte. Nicht nur innerhalb der Wissenschaftsgeschichte war Adams Lehmann eine Frontfrau: sie lebte das heute oftmals übliche und von beiden Seiten gewünschte Leben der Frau als berufstätiger Mutter und intellektueller Partnerin des Mannes vor. Darüber hinaus engagierte sie sich mit großer Zukunftshoffnung für soziale Belange. Die überzeugte Sozialistin betätigte sich als „Armenärztin“, die sich besonders der Verbesserung der medizinischen Versorgung der Arbeiterschichten annahm. So initiierte sie ein „Frauenheim“ und ein „Versuchskindergarten- und -schule“. Ihr Einsatz für eine selbstbestimmte Schwangerschaft brachte ihr 1914 einen aufsehenerregenden Prozeß wegen Beihilfe zur Abtreibung ein.
 
Lenin
Im Juli 1900 kommt in München ein Wladimir Iljitsch Uljanov an, der sich in der Kaiserstr. 53 bei Frau Rittmeyer als Herr Meyer einquartiert und bei Lehmann seine Post- und Deckadresse als Herr Meyer, Petrov oder Frey hat. Zu dieser Zeit benutzt er auch erstmals den Namen mit dem er später bekannt wird: Lenin. Er hat sein 2 Jahre dauerndes Exil in München nicht ohne Grund gewählt. Den Publizisten Parvus (eig. Dr. Israel Alexander Laserewitsch Heplphand), den„Stier vom Ural“, kannte er schon, als dieser mit illegalen tschechischen Paß und Lehmann als Begleittroß ihre gemeinsame Rußlandreise unternahmen und dabei auch Lenin in der Verbannung besuchten. Der seit 1871 in Deutschland lebende Axelrod stellte weitere Kontakte zu deutschen Sozialisten (Kautzky, Zetkin, Luxenburg) her, deren starke Organisationsform und Parteiapparat großen Eindruck auf ihn hinterließ. Dank dieser Organisation war die SPD nach dem Ende der Sozialistengesetze (1890) mit nur 100.000 Mitgliedern aber 2,1 Millionen Wählerstimmen zur stärksten Fraktion im Reichstag geworden.
 
Praktischerweise verkehrten alle diese Menschen auch bei Lehmann. Außerordentlich wichtig waren neben dessen großen Bibliothek Lehmanns Erfahrungen in der Verbreitung illegaler Schriften und Parvus´ Kontakte zu Druckern und Verlegern (Markus Ernst). Lenin wollte in München mit der Agitations-Zeitschrift „Iskra“ die „wahre Lehre“ des Marxismus herausgeben und in Rußland bekannt machen. Neben dieser Zeitschrift, die mit Hilfe der deutschen Genossen im Dezember 1900 erstmals erschien, gründete er noch die „Morgenröte“ (= “Sarja“), die eher wissenschaftlich-theoretische Ansätze der neuen Heilslehre eine Plattform bot.
 
Doch so ganz zufrieden mit München war er nicht. Das Wetter war nicht nach seinem Gusto, Frau Rittmeyer kochte zu viele Mehlspeisen und die „königlich-bayerische“ Sozialdemokratie war ihm, geleitet von dem Adligen Georg von Vollmar, zu wenig extrem ausgerichtet. Vollmar wollte kein „-ist“ oder „-aner“ sein, sondern für seine starrsinnigen, mäßig arbeitslustigen und genußorientierten (sprich katholischen) bayerischen Genossen reale Politik gestalten. Die in München vorherrschende Haltung „Leben und Leben lassen“ war zwar praktisch für Lenin und seine Genossen, dennoch inakzeptabel in der Haltung. Für Lehmann jedoch mit der eigentliche Grund für seinen Umzug in diese Stadt.
 
Mit dem Zuzug seiner aus der Verbannung kommenden Frau und der Namensänderung unter bulgarischen Pass (Dr. Jourdan Jourdanoff) kam Lenin auch öfters in die Umgebung von München, ja sogar in die Berge. Seine täglichen Spaziergänge bildeten die einzige Entspannung in seinem rein auf Arbeit an der Sache ausgerichteten Leben. Den bayerischen Genossen war er/es dann aber doch zu viel. Die Gerüchte verbreiteten die Mähr einer baldigen Polizeirazzia, auch war von russischen Geheimagenten die Rede. Lenin reiste jedenfalls am 14. April 1902 als Mr. Jacob Richter nach London ab. 1912 kehrte er für eine Stippvisite zurück. Auf der Reise aus Zürich (9. April 1917) im verplombten Eisenbahnwagen, die Parvus auf Betreiben einflußreicher Politiker arrangiert hatte, um den Kriegsgegner Rußland zu schwächen, blieb München nur Durchgangsstation. Der Plan ging aber, wie die Geschichte lehrte, für die Deutschen nach hinten los. Über die Ausrufung der Räterepublik in München wird sich Lenin aber sicherlich gefreut haben.
 
Adressen in München
Lehmann: Gabelsbergerstr. 20a, jetzt 40
Parvus: Ungererstraße 80, später Schiesstädtstraße
Lenin: Kaiserstr. 53, Kaiserstr. 45, mit Frau zusammen Schleißheimerstr. 106, später Siegfriedstr. 14 Ecke Clemenstr. (Gaststätte „Zur Siegfriedsburg“ als Treffpunkt)
Franz Blei: Arcisstr. 19
Leninfreund Martow Untermieter in Occamstr. 1
Anarchistin Sassulitsch Deckname „Berg“ Schraudolphstr.
Trotzki: bei Parvus Franz-Joseph-Str. 36
 
Literatur:
Ernst Bäumler: Verschwörung in Schwabing, München Piper 1991
Franz Blei: zeitgenössische Bildnisse, 1940, S. 260 (BSB)
W.B. Scharlau, Z.A. Zeman: Freibeuter der Revolution, 1964 (Parvus-Biografie)