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Ötzi
Geierwally

Wilhelmine von Hillern: Die Geierwally


Grab von Hillern in Oberammergau, Detail, Foto HJHereth

Hillern Schlößl in Oberammergau vor dem Kofel, Foto HJHereth
Das Kind Murzolls
Fünf Stunden war Wally gestiegen, bald über ganze Felder duftiger Alpenkräuter, bald über fußtiefe Schneefelder und breite Moränen hin. Die durchwachte Nacht lag ihr lähmend in den Gliedern, und fast verzagte sie, das Ziel ihrer „Fahrt" zu erreichen. Hände und Füße zitterten ihr, denn fünf Stunden mit solch einem tückischen Berg um sein Leben kämpfen ist eine harte Arbeit. Schwere Tropfen perlten auf Wallys Stirn - da plötzlich wie mit einem Zauber­schlage stand sie vor einer Wolkenwand. Sie war um eine Felsenecke gebogen, die sich vor die Sonne geschoben, hatte, und nun umfing sie dichter Nebel, und ein eisiger Hauch trocknete ihr den Schweiß von der Stirn. Ihre Füße rutschten bei jedem Schritte, so spiegelglatt war hier der Boden. Sie stand auf Eis. Sie hatte den Murzollgletscher betreten, die höchste Zacke des Hochjochkamms. Hier wuchs nur noch dürftiges Berggras zwischen Geröll und Schnee hervor, ringsum bläulich schimmerndes Eisgeklüft, reine, dies Jahr noch von keinem Menschen- oder Tierfuß beschmutzte Schneeflächen, tiefer Winter. Fröstelnd schauderte Wally zusammen. Dies war der Vorhof zur Eisburg Murzolls, von der im Ötztal so viele Sagen gehen, wo die „saligen" (seligen) Fräulein hausen, von denen die Luckard der kleinen Wally an langen Winterabenden erzählte, wenn der Schneesturm, um das Haus heulte. Es wehte sie fast gespenstig an aus diesen öden Eismauern, Höhlen und Verließen, wie alte Schauer der Kindheit, als wohne hier wirklich der finstere Gletschergeist, mit dem die Luckard sie so oft zu Bett geschreckt, wenn sie eigensinnig war.
Lautlos schritt sie weiter. Endlich machte der taube Führer halt bei einer niederen Hütte, von Steinen erbaut, mit weit überhängendem Dach, einer starken Tür von rohem Holz und kleinen Lücken statt der Fenster. Darin waren ein paar geschwärzte Steine als Herd und eine Lagerstätte aus altem, verfaultem Stroh. Das war die Hütte des Schnalser Hirten, der sonst hier gehütet hatte, und die nun Wally bewohnen sollte. Wally verzog keine Miene, als sie die trostlose Behau­sung sah, es war eben eine schlechte Alphütte, wie es viele gab, und sie war ja hart gewöhnt. Solche Dinge waren es nicht, die ihren trotzigen Mut erschütterten.
Aber sie war erschöpft zum Umsinken, sie hatte seit gestern mehr durchgemacht, als selbst ihre ungewöhn­liche Kraft ertragen konnte. Mechanisch half sie dem Tauben, dem Luckard eine Menge Nötiges und Gutes für Wally aufgepackt, eine bessere Lagerstätte bereiten, sich in der öden Hütte etwas wohnlicher einzurichten. Mechanisch aß sie mit ihm von dem, was Luckard ihr mitgegeben. Der Mann sah, daß sie blaß war, und sagte mitleidig: „So, jetzt war's 'gessen, jetzt leg dich a bissei nieder und schlaf, du hast's nötig. I will dir von da drunten derweil Holz 'rauftragen für die nächsten Tag; nachher muß i aber wieder umkehren, sonst komm i nimmer bei Tag heim, und dei Vater hat's streng befohlen, daß i heut wieder z'ruckkomm." Er schüttelte ihr einen guten Laubsack auf, den er mitgeschleppt, und sie sank mit halbgeschlossenen Augen darauf nieder und reichte ihm dankbar die Hand.
„I will dich nit wecken", sagte er. „Wann's d' etwa noch schlafen tät'st, wann i ging, sag i dir jetzt glei Adjes! Bleib g'sund und furcht dich mt. - Du dauerst mich - da oben so allein - aber - warum hast dein'n Vater nit g'folgt!"
Wally hörte die letzten Worte nur noch wie im Traum. Der Taube verließ die Hütte mitleidig kopfschüttelnd; das Mädchen schlief bereits fest. Bang und schwer hob und senkte sich ihre Brust, denn auch im Schlummer drückt erfahrenes Leid wie ein Alp. Und sie träumte von ihrem Vater, er schleife sie an den Haaren in die Kirche. Und sie dachte immer, wenn sie nur ein Messer hätte, daß sie die Haare abschneiden könnte, dann wäre sie frei. Da plötzlich stand Joseph neben ihr und hieb mit einem Streich die Zöpfe durch, daß der Vater sie in der Hand behielt, und Wally lief fort, und während der Joseph mit dem Vater rang, stieg Wally die Anhöhe der Sonneplatten hinan, um sich in die Ache hinabzustürzen. Aber ihr grauste doch vor der Untiefe, und sie besann sich. Da hörte sie wieder ihren Vater dicht hinter sich Verzweiflung faßte sie, und nun tat sie den. Sprung. Sie fiel und fiel - aber sie konnte nicht zur Tiefe kommen, und da war es plötzlich, als stemme sich ihr von unten ein Luftdruck entgegen, der sich nicht hinunterließe, sondern sie höbe und emportrüge. So schwebte sie auf, immer kämpfend um das Gleichgewicht, das sie beständig zu verlieren fürchtete, bis zu den Gipfel Murzolls. Aber sie konnte nicht Fuß fassen auf dem Felsen, wie ein Schiff, das nicht anlegen kann. Ein furchtbarer Wirbelwind hatte sie erfaßt, und sie mühte sich vergebens, sich an der nackten Wand anzuklammern. Schwarze Gewitterwolken ballten sich um sie zusammen, durch die gespenstisch bleich der schneeige Scheitel des Berges hindurchragte. Feurige Schlangen durchführen die schwarze Masse um sie her, ein Donnerschlag krachte, daß der Berg erdröhnte, und sie wurde wirbelnd zwischen diesen Gewalten hin und her geschleudert. Sie hatte nur immer die Angst, daß der Sturm sie umkehre, denn sie fühlte, daß, wenn sie mit dem Kopf nach unten käme, sie in die Tiefe stürzen müsse. Und sie bog sich und wand sich wie ein Schifflein auf den schaukelnden Luftwellen und mühte sich ab, den Kopf oben zu behalten. Aber da hob es ihr die Füße auf, und sie fühlte, wie die Schwere des Kopfes abwärts wuchtete. Sie wollte in den Sturm und den Donner und die schwarze Wolkennacht hinein um Hilfe schreien, aber sie brachte keinen Ton heraus, das Entsetzen schnürte ihr den Hals zu. Da plötzlich ward sie gehalten, sie fühlte festen Grund, sie lag in einer Bergschlucht, wie sie meinte, aber es war keine Schlucht - es waren riesige steinerne Arme, die sie umfingen; und siehe, aus dem gelichteten Gewölk heraus bog sich ein mächtiges Antlitz von Steinen über sie. Es war das greise Antlitz Murzolls. Seine Haare waren beschneite Fichten, seine Augen Eis, sein Bart war Moos, und die Brauen waren Edelweiß, Auf seiner Stirn stand als Diadem die Mondessichel und ergoß ihren milden Schein über das weiße Angesicht, und die großen Augen von Eis leuchteten geisterhaft in dem bläulichen Licht. Und er schaute das Mädchen an mit diesen kalten, durchsichtigen und doch unergründlichen Augen, und unter diesem Blick gefroren ihr die Tropfen des Angstschweißes auf der Stirn, und die Tränen auf der Wange fielen leise klirrend wie Kristallperlen herab. Und er drückte die steinernen Lippen auf die ihren, und unter dem langen Kuß wuchsen Alpenrosen um seinen Mund, der wann und taufeucht geworden, und als er Wally wieder aufbaute, da rannen Gletscherbäche aus seinen eisigen Augen in den Moosbart hinein. Die schwarzen Wolken hatten sich verzogen, und ein Frühlingswehen ging durch die Nacht. Und nun regte Murzoll die aufgetauten Lippen, und es klang wie das dumpfe Rollen ins Tal stürzender Lawinen: „Dein Vater hat dich verstoßen — ich nehme dich auf an Kindesstatt, denn das kalte Gestein fühlt eher ein Rühren als ein verhärtetes Menschenherz. Du gefällst mir, du bist von meiner Art; es ist etwas von dem Stoff in dir, aus dem die Felsen geworden, "Willst du mein Kind sein;"
„Ja!" sagte Wally und schmiegte sich an das steinerne Herz des neuen Vaters.
„So bleib bei mir und kehre nicht wieder zurück zu den Menschen, denn bei ihnen ist der Kampf  - bei mir nur ist Friede!"
 
Wilhelmine von Hillern: Die Geier-Wally. Heidelberg, Keysersche Buchhandlung 1960, S. 42-47