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Oberpfalz
Konnersreuth

Johannes Baader: Konnersreuth. Eine Gesamtbetrachtung.

Im Lehrbuch der Psychiatrie von Binswanger-Siemerling beginnt der Göttinger Universitätsprofessor Dr. E. Schultze die Beschreibung der Erscheinungen im Bereich der Hysterie mit folgendem Satz: "Die hysterische Störung ist auf eine in letzter Instanz unerklärliche Fähigkeit des Individuums zurückzuführen, eine im stillen vielleicht gewünschte oder befürchtete Änderung in körperlicher oder geistiger Hinsicht mehr oder weniger zur Tatsache werden zu lassen."
Dieser Satz gibt die Erklärung für alle Wunder des stigmatisierten Konnnersreuther Bauernmädchens. Die Geschichte der Therese Neumann kennt man. Es ist nicht nötig, sie nochmals vorauszuschicken. Es wird genügen, nachher auf die oder jene der bekannten Einzelheiten einzugehen.
Einigermassen hat es mich gewundert, dass man im allgemeinen die Wundersache damit für erledigt hielt, dass man sie mit Recht in das Gebiet der Hysterie verwies. Ich bin etwas erstaunt, dass die medizinischen Koryphäen, die über den Fall schrieben, jenes sehr wichtige Wörtchen in dem zitierten Satz des Professor Schultze vergassen, das Wörtchen "unerklärlich". Gewiss ist das Wunder von Konnersreuth eine hysterische Erscheinung. Aber kein Wissenschaftler sollte, wenn er schon das Wort "Hysterie" gebraucht, vor seinen Lesern oder Hörern verbergen, dass die Wissenschaft durchaus nicht in der Lage ist, das Rätsel der hysterischen Fähigkeiten zu erklären.
Dass ich mit diesem Einwand gegen die begutachtenden Wissenschaftler keineswegs der geschäftigen religiös propagandistischen Ausnutzung des Unerklärlichen des Wort reden will, was sofort betont sei. Es wird am Ende dieser Zeilen noch deutlicher werden.
Hier sei nur, gleich zu Anfang, der Christusrede gedacht, von der das Neue Testament berichtet. Als man Christus einmal über Zeichen und Wunder interpellierte, gab er zur Antwort: "Diese böse und ehebrecherische Art verlangt immer Zeichen, aber sie wird kein Zeichen von jener Sorte enthalten, die sie erwartet."
Nun könnte man denken, gerade das Zeichen von Konnersreuth  bildet den Gegenbeweis für diese Rede. Merkwürdigerweise gibt es aber im eigenen Bezirk des Christentums eine legendäre Warnung, die sich in der mittelalterlichen Redeform so ausdrückt: "Auch der Teufel kann sich schmücken mit allen möglichen göttlichen Wundern!"

Gedächtnisraum für die Resl von Konnersreuth, Friedhof, Foto HJHereth
Damit soll nun wiederum nicht gesagt werden, dass die Erscheinung von Konnersreuth vielleicht eine teuflische Angelegenheit sein könnte. Teuflisch natürlich im symbolischen Sinn genommen, als Ausdruck für ein Geschehen des Widerstreitens.
 
Immerhin aber reisst die Hysterie der Therese Neumann eine Reihe von Problemen auf, die an die tiefste Wurzel unserer aus Für- und Widerstreit sich nährenden Wesenheit führen.
Es soll nicht untersucht werden, in welche Klasse Das Für oder Wider die Äusserungen der internationalen Sensationsgier zu rechnen sind, die sich schon heute um den Ort des einfachen, stillfrommen Bauernmädchens ranken. Es soll angenommen werden, dass nicht eine Spur von Betrug in dem entlegenen Dorf des Bayrischen Waldes geübt wird. Es soll zugegeben werden, dass fast alle Erscheinungen, die sich im Leben der jungen Heiligen zeigen, der ärztlichen Wissenschaft längst bekannt sind. Wenigstens der Art nach. Dass hiermit noch gar nichts gesagt ist, beweist, durch den einleitenden Ausspruch von Schultze-Göttingen, die ärztliche Wissenschaft selber. Nicht nur die mit dem Decknamen "hysterisch" bezeichnete Fähigkeit bleibt in letzter Instanz unerklärlich; auch der Grund für das Wünschen oder Befürchten einer Änderung  in körperlicher oder geistiger Hinsicht hat seinen letzten und tiefsten Sitz im Unerklärlichen. Ganz abgesehen davon, dass noch kein Mensch bis heute einen sicheren Aufschluss geben kann über das Wesen des Zusammenhangs von körperlich und geistig.
Niemand weiss letzten Endes, warum wir etwas wünschen oder befürchten. Niemand weiss genau Bescheid über Geist und Körper. Abtun und erledigen also lässt sich die Erscheinung von Konnersreuth mit dem Wort "Hysterie" nicht.
Was aber das Wunder betrifft, so sei geziemendst daran erinnert, dass das sogenannte Wunder von Konnersreuth bis auf wenige Punkte ein Kinderspiel und ein Schatten ist gegenüber dem unsagbaren Wundern, die wir alle, jeder von uns, tagtäglich in unserem Körper erleben. Man lasse sich von Physiologen erklären, welche unglaublichen Geschehnisse sich ununterbrochen in unserem Körper bei jeder geringsten Handlung ereignen. Man überlege sich alle die, mehr als märchenhaften Vorgänge in Blut, Nerven, Muskeln, Drüsen, Gedärmen, die fortwährend sich abspielen, wenn die Welt unseres Leibes denkt, spielt und arbeitet. Nur weil sie täglich und unsichtbar geschehen sind diese Wunder gering.
Einiges von den Lebensvorgängen im Körper der Therese Neumann ist ja nun allerdings selten. Es geschieht fortdauernd, mit grösster Regelmässigkeit, dass im Körper der Frau alle vier Wochen eine Blutung auftritt, aber es geschieht selten, dass eine Frau ausserdem jeden Freitag an Kopf und Brust blutet.
Dass in unserem Körper Gedächtnismaterial über viele Jahre hinweg aufbewahrt wird ist eine ebenso mysteriöse Sache, wie die Aufbewahrung der Eigenschaften und Errungenschaften unserer Vorfahren im Wunderbau der menschlichen Ei- und Samenzelle, von denen beiden die Eizelle gerade eben noch innerhalb, die Samenzelle aber weit unterhalb der Sehgrenze unseres Auges liegt. Das alles aber ist eine alltägliche Geschichte, also "nicht mehr" wunderbar. Nicht alltäglich, und also wunderbar ist es, dass in dem Körper der Therese Neumann, wenigstens fast jeden Freitag, die Passion Christi gesehen, gehört und erlebt wird.
 
Wie sehr das Bauernkind diese Passion, ob bewusst oder unbewusst gewollt, zu erleben wünschte, können wir nicht wissen. Warum es sie zu erleben wünschte können wir ebenso wenig wissen. (Dass das "Wünschen" selber ein Rätsel ist, sei hier nicht mehr erörtert.)
Leicht wird die Tatsache zu verstehen sein, dass die durch einen schweren körperlichen und seelischen Schock bild gewordene Bauernmagd am Tage der Heiligsprechung der von ihr sehr verehrten französischen Hl. Therese wieder sehend wurde. Sie "wollte" an diesem Tag sehend werden, und nach Schultze-Göttingen hatte sie einfach die Fähigkeit, dies zur Tatsache werden zu lassen.
Wie aber soll man der Tatsache des Passionserlebnisses näherkommen? Wobei wir sogar als Wahrheit unterstellen wollen, dass die Leidende und Mitleidende die bei der Passion gehörten Worte in der ihr unverständlichen aramäischen Sprache hört. In der Sprache, in der zur Zeit Christi in Palästina gesprochen wurde.
Bei den Mysterien in Samen und Ei spricht man von "Dominanten", von "Richtlinien" und "Richtpunkten", denen die Fähigkeit einwohnt, die Errungenschaften von Jahrtausenden lebend von Körper zu Körper weiterzugeben. Diese im "Winzigsten" lebendigen Dominanten dauern über Jahrtausende, sogar über Jahrmillionen. Sie haben die Fähigkeit, Weltkörper von ungeheuerster Kompliziertheit und Grösse zu erbauen. Ungeheuerlich ist die Kompliziertheit der Welt eines Menschenkörpers, die jedes Mal bei der Reifung des Kindes im Mutterleib entsteht, genau so, wie sie in jahrmillionenlanger, todüberdauernder Erbtätigkeit gebildet wurde. "Das "Gedächtnis der Erbmaterie" ist eine so unglaublich rätselhafte Erscheinung, dass sie von keinem anderen Welträtsel geschlagen werden kann.
Soweit aber wie das Rätsel vom Gedächtnis der Erbmaterie lässt sich das Rätsel der Passionserinnerungen der Therese Neumann mindestens ebenso gut zurückverfolgen. Wir wissen nicht, welche Art von Strahlschwingungen über Jahrtausende hin in der Erbmaterie sich fortpflanzt und bis in die feinsten Ähnlichkeiten hinein genau und präzis die im Verhältnis zu Samen und Ei weltgebirgsgrossen Körpereinzelheiten baut. Wir wissen ebenso wenig, welche Art von Strahlschwingungen es sein kann, die irgendwie im Äther der Erinnerung an Jahrtausende zurückliegende Ereignisse aufbewahrt sind. Aber dass es solche Schwingungen geben kann, dass sie dauernd vorhanden sind, und im geeigneten Empfänger bis ins Einzelne getreue Wiedergabe finden können, darf heute niemand mehr grundsätzlich bestreiten.
Nur dieses Grundsätzlich soll hier festgestellt werden. Alles Einzelne bedarf der vorurteilslosen und sachlich nüchternsten Untersuchung.
Ich fasse zusammen. Das Wunder der Therese Neumann ist nicht grösser als das Wunder jedes gewöhnlichen Menschenlebens. Es ist seltener, aber nicht wunderbarer. Die sehr liebe Therese Neumann darum heilig zu sprechen besteht kein Anlass. Heilig ist jedes Menschenleben.
Eine Antwort, die ich einem Frager über das Rätsel von Konnersreuth gab, mag das Letzte aussprechen, das unserem Denken im Kreis der Lebensgeheimnisse gestaltbar wird. Ich gab diese Antwort noch ehe die Einzelheiten alle bekannt waren, die man aus Konnersreuth meldet. Sie lautet: Der Zauber des ewigen Lebens hat jede Person geschaffen und zaubert zu seiner Zeit im Weltbau des Menschen alle Wunder seines Geschehens. Die inneren Häuser der Welt sind fern jedem Tod, und ihres Lebens Gehalt wirft sein Zauber ans Licht wo und wann immer die Ewigkeit will, dass er leuchtet.
 
Johannes Baader: Konnersreuth. Eine Gesamtbetrachtung. © Ephemera München 2004, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages