Die Tagebuchblätter von Constantin Christomanos
Schönbrunn, 19. Februar
Wir sind heute, den ganzen Nachmittag hindurch, ausschließlich jene beiden von zwei Seiten zum Gloriet so sanft aufsteigenden Wege auf- und niedergegangen. Graue, müde Stunden. Der Himmel wie von Asche. Die Bäume froren. Die abgefallenen Blätter in dichten Schichten unter den Bäumen, wie verwelkte Gedanken und verschollene Freuden, und darunter lagen die toten Stunden wie in Gräbern. Auch die wenigen Blätter, die noch an den Bäumen hingen, schienen gekrümmt wie im Schmerz. Die Luft war unbeweglich und schwer wie stehendes Gewässer. Wir gingen, ohne zu sprechen, immer dieselben Wege auf und nieder, an der einen Seite hinauf und an der ändern hinunter, einen Kreis um das Symbol des Gloriets schließend.
Die Kaiserin war heute ausnahmsweise wortkarg; ihre Bewegungen entbehrten jene herrliche Ruhe und Milde der Linien, die ihnen sonst zu eigen war und die sie mit niemand anderem teilt; das Blut stieg ihr von Zeit zu Zeit in die Schläfen. Ich fühlte, daß eine fremde, ihrem Innern feindliche Atmosphäre sie umfangen hielt.
An solchen Stunden fühlt man das Leben besonders schwer lasten, sagte ich, als wir wieder auf der Hohe des Gloriets angekommen waren, wie um das Schweigen in mir austönen zu lassen.
Sie meinen das Leben, das wir als entwickelte Herdentierchen fuhren müssen? erwiderte die Kaiserin mit leichter Ironie in der Stimme. Das ist nichts Neues! Es ist so finster und unwahr, daß man gar nicht zu versuchen braucht, es erträglich zu finden.
Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu:
Oft komme ich mir vor wie dicht verschleiert, ohne es zu sein, wie in einer innerlichen Maskerade: im Kostüm einer Kaiserin.
Ja, Majestät, wir halten die begleitenden Erscheinungen und die äußeren Bedingungen der Existenz für das sublime Leben selbst, während es nur Trabanten und Knechte um die verschlossene Sänfte einer Fürstin sind: etwas roh Kämpfendes und geräuschvoll Aufdringliches um das Leben herum, wie mit finsteren Schatten und falschen Lauten das Köstliche nach außen verdeckend und verleugnend. Und dies alles, das uns eigentlich fremd ist, verwechseln wir mit dem, was uns einzig und allein zu eigen.
Die Kaiserin entgegnete:
Deshalb müssen wir nach Möglichkeit trachten, wenigstens einige Augenblicke zu erretten, an welchen wir, jeder nach seiner Art, in unser eigenes Leben kommen können. Ich entdecke mich jedesmal neu, wenn ich in eine andere Atmosphäre gelange, die noch niemand eingeatmet und verbraucht hat. Dann atme ich tief auf, wie aus einer neuen Brust. Wenn ich mich ganz allein in einer einsamen Landschaft befinde, von der ich weiß, daß sie nicht oft betreten wird, fühle ich, daß meine Beziehungen zu allen Dingen ganz verschiedene werden, als wenn auch andere Menschen dabei sind: nur an diesem Unterschiede erkenne ich mich selbst- auf dem Meer, in den weiten Ebenen, wo es keine Winkel gibt, in denen die Menschen sich so gerne ansetzen wie Staub. Das Leben unter den Menschen uniformiert uns alle zu einem schwarzen Haufen, dem nur das Gemeine gemeinsam ist.
Eigentlich empfinden die Menschen das alles nicht, solange sie leben, sagte ich; erst wenn wir sterben, glaube ich, beginnen wir ernst und tief zu leben.
O nein, sagte die Kaiserin, auch im Leben leben wir so, nur sehen und fühlen wir unser Leben nicht; beim Tode erst fallen die Schuppen von unseren Augen. Es gibt aber Menschen, die noch als Lebende dem Tode näher sind, als dem Leben. Wir haben gewöhnlich keine Zeit, den Himmel anzusehen, der auf unsere Blicke wartet. Ich habe einmal in Tölz eine Bäuerin gesehen, wie sie die Suppe den Knechten austeilte: sie kam gar nicht dazu, ihren eigenen Teller zu füllen.
Der Gedanke an den Tod müsste an und für sich schon unser Leben verschönern, bemerkte ich. Alle irdischen Dinge bekommen dadurch, daß sie vergänglich sind, einen tiefen inneren Wert und die Bedeutung von Symbolen.
Ja, sagte sie, der Todesgedanke reinigt wie ein Gärtner, der das Unkraut jätet, wenn er in seinem Garten ist. Aber dieser Gärtner will immer allein sein, und ärgert sich, wenn Neugierige in seinen Garten schauen. Deswegen halte ich den Schirm und den Fächer vor meinem Gesicht, damit er ungestört arbeiten kann ...
So gingen wir, leise sprechend, oder vielmehr den Monologen unserer Gedanken lauschend, den Weg, der vom Gloriet hinabstieg, gegen das Schloss zurück. Ich blickte da wieder zu jenem Schirm und jenem Fächer auf — dem berühmten schwarzen Fächer und dem allbekannten weißen Schirm treuen Begleitern ihrer äußeren Existenz, die fast zu Bestandteilen ihrer körperlichen Erscheinung geworden. In ihrer Hand sind sie nicht das. was sie den anderen Frauen bedeuten, sondern nur Embleme, Waffen und Schilde im Dienste ihres wahren Wesens. Wenn sie hoch auf dem Gipfel eines Berges steht, mitten im Brand der Sonne, da der große Mittag sich auf die Felsen wälzt und die Einsamkeit sehnsüchtig tönt, dann schließt sie den weißen Schirm, der ihren Kopf von allen Seiten verdeckt, dann senkt sie den schwarzen Fächer von der Blässe ihres Antlitzes: sie selbst sagte mir dies einmal in Lainz. Nur das äußerliche Leben der Menschen als solches will sie damit abwehren, es an sich selbst nicht zur Geltung kommen lassen, den »Herdengesetzen entwickelter Tierchen« sich nicht beugen; ihr inneres Schweigen will sie unentweiht hüten; die verschlossenen Gärten der Trauer, die sie in sich birgt, will sie nicht verlassen, jene Gärten, aus denen die Menschen sich selbst ausgestoßen haben. Und da neigt sie sich ohne Unterlass über die ewigen Blumen des Schmerzes, die in ihrer Brust blühen, und lauscht den Lauten der lebenden Weltschönheit, die diesen Kelchen entquellen und in sich selbst verquellen und den Kern ihres Wesens weben.
Was ist die Freude, Majestät? frug ich, als wir schon in das kleine Gartenparterre getreten waren, das vom rechten Schloßflügel gegen Hietzing zu sich ausdehnt. Die Kaiserin schritt sehr rasch, denn die Schlossuhr, die mit ihrem großen Auge, so nutzlos für die Bäume, in diesen Garten hineinschaute, zeigte schon bald auf 6 Uhr abends.
O die Freude! sagte sie, während sie mehr lief als ging, die Freude ist nur ein flüchtiges Ding, eine Episode, ein Lückenbüßer, während man auf die Sehnsucht wartet, die kommen soll. Diese kommt immer, denn sie ist die Erwartung des Schicksals, das zu erreichen unser Lebenszweck ist; sie ist das Traurigste, das es in der Welt nur gibt, und deswegen auch das Herrlichste. Alle Wesen warten auf ihr Schicksal, und wenn sie davon nicht abgehalten werden, sind sie auch traurig. Sehen Sie, jetzt muß ich wieder laufen, weil ich schon solange von dem lieben Leben weggeblieben bin: Mein schwedischer Arzt erwartet mich wieder, um mich zu massieren - ich nenne das »kneten«. So wenig kaiserlich ist mir dabei zumute! — und dabei lachte sie laut auf. Als ich in meinen Wagen stieg, sagte ich mir: »Sie hat gelacht! Sie kann eigentlich nicht lachen und will nie lachen, solange sie sich in ihrer wahren Gestalt befindet. Nur wenn die Realität sie berührt, nur in Beziehungen zu den sogenannten menschlichen Dingen lacht sie. Lachen heißt wohl für sie, sich innerlich entfernt sein!«
Elisabeth von Österreich Die Tagebuchblätter von Constantin Christomanos. Hg von Verena von der Heyden-Rynsch, S. 71-76, Matthes & Seitz 1983