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Die Rattenlinie

Flucht über die Ratten- und Klosterlinie ins vermeintliche „Paradiso“

Als Rattenlinie bezeichnet man den vom amerikanischen Geheimdienst eingeführten Begriff für Fluchtrouten, auf denen man Agenten aus dem feindlichen Hinterland herausschleust und in Sicherheit bring („ratline“). Auf ihr wurden Menschen und Sachwerte wie der sagenumwobene „Nazi-Schatz“ ins Ausland transferiert. Als bekannte Rattenlinie erhielt der Fluchtweg über den Brenner und nach Südtirol auch den Beinamen „Klosterlinie“ wegen der vielen Klöster und Schlösser, die als Fluchtstationen („Rattenhäuser“) dienten. Gleichfalls wird er manchmal als „Römische Weg“ oder „Vatikanlinie“ bezeichnet, da er direkt im Vatikan endete. Zentrale Bedeutung für diese Namensgebung hatte der österreichische Bischof Monsignore Alois Hudal, ein überzeugter Nazi. Als Direktor des Priesterkollegs „Santa Maria Dell´Anima“  war er nicht nur über 30 Jahre für die Ausbildung junger Priester verantwortlich, er hatte faktisch die Funktion eines Oberhauptes der Deutschen Gemeinde in Rom inne. Dadurch war es ihm möglich, für deutsche Flüchtlinge problemlos beim Roten Kreuz Nansen Pässe zu besorgen und zudem Anlaufstationen in den Ausreiseländern bieten zu können.
 
Die am häufigsten benutze Absetzungslinie der NS-Bonzen verlief von dem Ausseerland (Toplitzsee und die ihn umgebenden Almen) über Salzburg oder München, den Brenner nach Südtirol, um in Rom oder Genua vorläufig zu enden. Südtirol, vor allem Meran, kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Meran, im 19. Jahrhundert habsburgische Hauptstadt von Tirol und des Trentinos, war durch seine Nähe zur neutralen Schweiz ein Sammelpunkt von Agenten verschiedener Couleur, von Nazischergen und Widerstandsgruppen, die alle in einem engen Interessensgeflecht zueinander standen. Die Nationalsozialisten nutzen Klöster und Schlösser als Operationsbasen als Treffpunkte, Verteilstationen von (Falsch-)Geld und Menschen. Ironischerweise benutzten die illegalen jüdischen Auswandererorganisationen (Hagana etc.) nach der Niederlage des Dritten Reiches die selben Orte. So konnte es vorkommen, wie Simon Wiesenthal beschreibt, dass zeitgleich Juden und Nazis dasselbe Herberge als Wegstation benutzen ohne von einander zu wissen, wobei sich die Granden des abgelösten NS-Regimes auf ihren Weg komfortabler bewegten konnten (Zug, Autos) als die „DPs“.
 
Die Führungsetage wollte so unbescholten wie möglich die Niederlage überstehen und suchte z.T. schon frühzeitig Kontakt mit den Alliierten. Jede Abteilung (SS, SD etc.) kochte dabei ihr eigenes Süpplein. Nach innen waren sie aber aus Furcht vor Hitler bemüht, ja nicht den Eindruck der Absetzung zu erwecken und den Glauben an den Endsieg zu verlieren. Bohrmann ging es darum die treuesten, fähigsten und überzeugtesten SS- und Parteimitglieder nach Übersee zu evakuieren und dort für sicheren Unterschlupf zu sorgen. Dazu mußten Geld- und Sachwerte außer Landes geschafft und vor Ort Organisationsformen, die das Überleben sichern konnten, aufgebaut werden. Die Bemühungen begannen schon 1944 bei einem geheimen Treffen deutscher Industrieller in Straßburg. Heute würde man dies wohl als Geberkonferenz bezeichnen. Führungsfigur dieses „ODESSA (= Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen) genannten Unternehmens war der SS-Obersturmbannführer Otto Skorzeny, der gefeierte Befreier Mussolinis aus seiner Alpenhaft in Gran Sasso.
 
Im Salzkammergut versuchte die SS unter der Leitung von Ernst Kaltenbrunner den Widerstand gegen die Allierten im Höllengebirge zu organisieren. Diese vermuteten dort die nie gefundene Alpenfestung und das sagenumwobene „Nazigold“. Und genau hier tauchte 1945 ein seltsamer Trupp Sanitätsfahrzeuge und Kradfahrer unter Führung von Eichmann auf, beladen mit 22 Kisten Gold aus dem Reichssicherheitsamt. Sie waren auf dem Weg zur Bla-Alm. Am Angstbach verlor diese Prozession ihre Fahrzeuge. Die Kisten mit Gold wurden jedoch nie gefunden. Man vermutet sie vergraben am Fußes des Losergebirges. Eichmann und seinen Mannen gelang die Flucht über das Tote Gebirge. Was für Namen! Ebenfalls nur teilweise wurden später die Fälscherplatten und Pfundnoten gefunden, die LKW-weise neben anderen Unterlagen zur Atomforschung, chemischen Geheimformeln und Unterlagen zu den KZs im Toplitzsee nahe der Gößler Wand versenkt wurden.
 
Die Fälscherwerksatt mit dem Namen „Aktion Bernhard“ wurde 1942 unter Leitung von SS-Sturmbannführer Bernhard Krüger im KZ Sachsenhausen gegründet um die Devisenlage des Deutschen Reiches zu verbessern und die Wirtschaft des Gegners zu destabilisieren. 29 meist jüdische Häftlinge produzierten in einem abgesonderten Block Pfundnoten in hervorragender Qualität. Gegen Kriegsende (1944) wurde die gesamte Abteilung ins KZ Ebensee im Salzkammergut ausgelagert.
 
Ein wichtiger Umschlagplatz dieser „Devisen“ war Meran. Von Schloss Labers aus, in unmittelbarer Nähe von Sissis Fluchtort Schloß Trauttmannsdorf gelegen, befand sich das Hauptquartier von Friedrich Schwend, der zusammen mit dem jüdischen Besitzer des benachbarten Schlosses Rametz Albert Crastan die Verteilung des gefälschten Geldes organisierte. Da Crastan im Rang eines Schweizer Konsul stehend, auch außergewöhnlich gute Kontakte zum Roten Kreuz hatte, bildet Schloß Rametz eine wichtige Relaisstation

Albergo Al Lupo am Brenner, Foto HJHereth, www.fluchtwege.eu
der „Rattenlinie“. Andere noch bekannte Stationen waren das noch heute bestehende Albergo Al Lupo am Brennerpass, das Kapuzinerkloster in Brixen, die Klöster Maria Weißenstein und Neustift sowie die Abtei Marienberg

Schloß Rametz bei Meran, Foto HJHereth, www.fluchtwege.eu
Die Schlösser Rametz und Labers sind heute Hotels gehobenen Standarts, Schloß Trauttmannsdorf ist für seinen Garten und das Tourismusmuseum bekannt und in den Klöstern Maria Weißenstein und Kloster Neustift kann man wie eh und je übernachten.

Schloß Labers bei Meran, Foto HJHereth, www.fluchtwege.eu
Im Jahre 1990 versuchten Rena und Thomas Giefer in einem Film für den WDR diesen Fluchtweg zu rekonstruieren und Ort- und Augenzeugen zum Sprechen zu bewegen
 
Ein anderes Filmprojekt, der Dokumentarfilm der Filmemacherin Carmen Tararotti, widmet sich einem der skurillsten Tourismusprojekte der Alpen, dem ehemaligen Luxushotel „Paradiso del Cevedale“, das im obersten Martelltal auf 2160m vor sich hin verrottet. Gebaut wurde es zwischen 1933 und 1935 von dem Mailänder Architekten Gio Ponti. Unterstützt wurde das Bauvorhaben des monumentalen Gebäudes mit seiner konkov geschwungenen Fassade und dem Pultdach von der Regierung Mussolinis und dem italienischen Verkehrsministerium. Gemäß der faschistischen Ideologie sollte der Norden Italiens – das deutschsprachige Südtirol – italienisiert und touristisch erschlossen werden. Optisch schließt sich Pontis Entwurf seines „nuovo schema“ an den „Stile internationale“, Vorstellungen des Futurismus und die Ideen des Bauhauses an.
 
Ohne existierende Infrastruktur wurde mit den Planung in dieser grandiosen Landschaft begonnen. Nicht umsonst nennen die Einheimischen diese Gegend unterhalb der Zerfall-Hütte „Paradies“. Erst 1934 wurde eine Zufahrtsstraße aus dem Tal hergerichtet und ausgebaut, damit die mehr als 100, zumeist einheimischen Arbeiter und das Material in diese hochalpine Region herangeschafft werden konnten. Mit seiner Fertigstellung 1937 konnte eines der modernsten und luxuriösesten Hotels im Alpenraum seinen Gästen einen Ort der Ruhe und Erholung bieten. Neben dem, jeden Komfort bietenden Hotel, gab es noch einen räumlich davon getrennten Beherberungsbetrieb für „normale“ Bergwanderer.
 
Das Hotel erlebte aber kriegsbedingt nur eine kurze Blütezeit als Luxusresort internationaler Gäste, faschistischer Funktionäre und der haute volee der Wirtschaft- und Finanzwelt. Schon 1940 musste aus wegen mangelnder Auslastung vorübergehend geschlossen werden. Nach der Kapitulation Italiens belegte die Soldaten der SS-Division Brandenburg das Hotel und richteten darin eine Spionageschule für alle Waffengattungen ein. Wie die Schlösser und Villen bei Meran diente das „Paradiso“ als Quartier von NS-Vertrauensleuten und Schiebern. So tummelten sich dort bis 1945 Naziprominenz wie der SS-Sturmbannführer Friedrich Schwend und Oberststurmbannführer Otto Skorzeny, der Mussolini aus seiner Gefangenschaft in Gran Sasso befreit hat.
 
1946 ging der Hotelbetrieb in Konkurs. Das Gebäude und die es umgebenden Ländereien wurden 1952 an den venezianischen Reeder Bennati verkauft, der es erweitern und in „rosso veneziano“ neu anstreichen ließ. Nach dem tragischen Tod seines Sohnes verlor er aber die Lust an diesem Projekt und stellte 1956 erneut den Hotelbetrieb ein. Seit dieser Zeit verkommt das Gebäude immer mehr. Es wurde komplett ausgeplündert und von Vandalen stark beschädigt. Seit 1966 ist es im Besitz der Familie Fuchs, den Eigentümern der Brauerei Forst. Heute sind Fenster und Türen vernagelt und das Hotel nicht mehr begehbar. Besucht wird es nur noch von Architekturbegeisterten und Wanderen der Ortler Region. Bekannt ist das Martelltal heute wegen seines sanften Touismus und seiner Erdbeerfelder, den höchstgelegenen Anbauflächen Europas mit besonders süßen Früchten.
 
Beeindruckt und literarisch verarbeitet haben das „Paradiso“ Thomas Bernhard im „Stimmenimitator“, Franz Tumler in seinem Buch „Das Land Südtirol“ und die „deutschsprachige Schriftstellerin italienischer Nationalität“ Sabine Gruber in „Stillbach oder die Sehnsucht“.