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Carl Lehmann - Lenin
Franz Blei

Franz Blei: Erzählung meines Lebens

24. Lenin
 
Der verschlagene serbische Bauernschädel, der in den Genfer Cafes abwartete, wer in den balkanischen Affären die robustere Hand haben würde, Österreich oder Rußland, und dem im diplomatischen Kampfe der Großmächte ein kleines Terrain gestattet war, auf dem er mit den landesüblichen drastischen Mitteln des Umbringens seinen großbäuerlichen Ambitionen genügen konnte - dieser Herr Karageorgewitsch, der bald als König Peter in die Geschichte seines Landes trat, weil der eine Spieler mit seinem Königsbauer die Partie gewonnen hatte, besaß gewiß nicht mehr den ideologischen Glanz, von ehemals, in dem des Königs kleine private Person unsichtbar blieb. Daß er der König seines Landes werden müsse, das ließ sich dieser Peter nicht von seinen russischen Freunden erst einreden, und er verzichtete auch sicher gänzlich auf jede legitimistische Theorie, die seiner ihn beherrschenden Leidenschaft nach Grundbesitz das Recht gab. Denn diese war stark und ausschließlich genug da, als daß sie solche Legitimierung brauchte. Mit dem starken Freund für die Kompetenzen der großen Politik besorgte er seine kleine mit den alten Mitteln eines Sippenhäuptlings gegen die herrschende andere Sippe, gut mittelalterlich.
Wie seiner Leidenschaft unsicher erscheint dagegen ein Parteichef, der sich darauf beruft, daß, was er will und tut, auf einem erkannten „Sinn der Entwicklung“ beruhe und im notwendigen Ablauf eines historischen Gesetzes stehe, das triumphieren müsse gegen alle Widersacher, die nichts als ephemer sein könnten, denn der Triumph sei nicht die Folge einer persönlichen Anstrengung, sondern historisches Gesetz, das sich durchsetze. Die Alten arrogierten für das, was sie wollten, das Schicksal: die Modernen, wissenschaftlich gedrillt, formulieren das Schicksal als auf Beobachtung gegründetes wissenschaftliches Gesetz. Diese scheinbare Entpersönlichung der politischen Leidenschaft hat deren kontagiöse Kraft außerordentlich gesteigert: nie zuvor in der Geschichte waren solche Massen davon ergriffen; nie zuvor spielte die Masse eine solche Rolle im Kalkül des politischen Chefs. Als der Mensch der Masse in die Historie trat, beschrieb ihn Stendhal als den, der nicht umgebracht werden und einen warmen Winterrock haben will. Er geht in den Krieg, um sich gegen einen Feind zu verteidigen, der ihn umbringen und ihm seinen Winterrock nehmen will. Es ist eine Sache der politischen Geschicklichkeit, ihm diese Absichten seines Nachbarn einzureden, der damit der Feind wird. In einem Notizbuch, das ich zeitweilig führte, finde ich unter dem 27. Oktober des Jahres 1901 die folgende Eintragung: „Bei meinem Schwager zur Begrüßung. (Er war zusammen mit dem Russen, der sich als Journalist Parvus nannte, fünf Monate in den Hungerprovinzen Rußlands gereist und hat darüber in einem Buch Das hungernde Rußland berichtet.) Bebel war noch da, müde und abgespannt aus Zürich vom Besuch seiner kranken Tochter eingetroffen; er ging bald. Fritz Adler, Dozent der Physik in Zürich, samt seiner Frau. Adolf Müller von der Münchner Post. Und ein Russe, immer als Meier angesprochen, unter welchem Namen er in Schwabing lebt und in der Druckerei der Post ein russisches Blatt Iskra drucken laßt. Mit dem Sack russischer Lettern immer unterwegs. Ob wir uns nicht schon einmal in Genf gesehen hätten, fragt er mich, deutet Ort und Umstände an. Uljanows gutes Gedächtnis. Er hat inzwischen alle Haare verloren. Nicht seine Verehrung Plechanows. Denn er nahm es mir noch übel, daß ich eine sozusagen philosophische kleine Schrift von P. in Avenarius' Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie sehr wegwerfend besprochen hätte, vor zehn Jahren, als Student. Ich sagte, ich würde heute wohl das gleiche, nur besser sagen. Ob ich denn immer noch Machist sei, fragt U. Ich darauf, daß ich nicht recht wüßte, was das sei und was es mit Marx oder Plechanow zu tun hätte. Adler kommt nervös ins Sprechen. Russische Debatte, wie ich sie aus der Schweizer Studentenzeit her kenne. Mit Leidenschaft wird alles, was man im Wesen philosophisch denkt, auf den Nenner Marx gebracht. Am Prüfstein der materialistischen Geschichtstheorie gerieben ... Aber es stünde fatal um die Befreiung der Arbeiterklasse, wenn sie von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Theorie abhinge. Diese russischen Marxisten sprechen von der russischen Arbeiterpartei. A. Müller bemerkt, es gäbe in ihr mehr Führer als Geführte. Also Uhren ohne regulierende Gewichte. Herrlich für den Revolutionär, den Verschwörer! Er kann Diktator sein. Braucht keine Ausschüsse, Sitzungen, Kommissionen. Meier ist unwiderlegbar. Was er sagt, ist weder falsch noch richtig. Ein solcher Mensch braucht nur eine Stunde. Keine Theorie. Egal ob Marxismus oder Machismus, von dem U. spricht als wie von einer sozialistischen Parteisekte, die es in Rußland gäbe und die eine zu bekämpfende Gefahr sei. Adler, immer nervös an seinem rötlichen Spitzbart ziehend, blieb nichts als Physiker in der Debatte und verteidigte Mach. Ich ging um zwei.“
[...]
Die äußeren Umstände waren glücklicherweise nicht mehr derart, daß sich bei den paar zufälligen Gelegenheiten eines Zusammenseins mit Lenin solche unwissenschaftliche Debatten über Wissenschaftliches eingestellt hätten. Man aß ein mit den Fingern zerteiltes Brathuhn auf der Oktoberwiese und trank dazu das Bier aus dem Kruge. Damit vertrugen sich Falten auf der Stirne nicht. Eher schon allerlei Spaß, der gar nicht bloß so nachgiebig klang, sondern diesem Russen eigentümlich war. Er konnte mit einem nicht geringen Charme von einer groben Humorigkeit sein, wie man das oft bei Menschen trifft, die sowohl ihrer Person wie ihrer Sache ganz sicher sind. Hier richtiger gesagt: der Zweckdienlichkeit ihrer Person für eine von ihnen vertretene und zu schaffende und im wesentlichen gar nicht mehr zu diskutierende Sache.
 

Franz Blei: Erzählung meines Lebens, Zsolnay 2004, S. 216-219 ©Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H.  Deuticke Verlag