druckkopf

Wildern
Floitenschlag Staude

Wilhelm E. Hofer: Die Floitenschlagstaude

Lang schon war es kalt und regnerisch. In der Stube wurde es vor Zug und Feuchtigkeit nicht mehr warm. Im Kamin qualmten nasse Scheiter und gaben keine Hitze. Seit dem Frühstück hatte es nichts anderes gegeben als Milch, die Erdäpfel waren aufgezehrt, das Wildern hatte nichts gebracht, was man brauchte. Wenn am nächsten Tag etwas zu essen da sein sollte, würde wohl ein Ferkel dran glauben müssen. Hungrige Gesichter starrten die Mutter an.
Seit die „Staude" verwitwet war, fehlte es an einem geregelten Einkommen, wurde das Überleben immer schwieriger. Es gab keine Witwenpension oder sonst eine staatliche Zubuße. Für Schulsachen war schon lang kein Geld mehr da, Fleisch war Mangelware und außergewöhnliche Seltenheit, Obst - für die Kinder dringend notwendig - nur durch die Barmherzigkeit weniger Bauern aus dem Ort zu bekommen, und der eigene Acker brachte nur mehr ein paar Erdäpfel hervor.
Liesl war gezwungen, Nahrung zu besorgen. Das Gewehr, das Josef gekauft und sorgfältig gepflegt hatte, lag an einem sicheren Platz im Wald versteckt. Gleich nach dem Tod des Gatten hatte sie es dorthin gebracht. Sie wusste um das große Risiko, das sie einging, sollte sie vom Förster oder Jäger beim Wildern ertappt werden. Würde sie festgenommen, mussten die Kinder schauen, wie sie allein zurechtkämen. Niemand würde sich um sie küm­mern. Den Kindern das Notwendigste an kräftigender Nahrung zu bieten, das trieb sie hinaus. Das Wildern war für Liesl kein Problem, sie machte sich jedoch Gedanken über den Schuss, den man im weiten Umkreis über das Tal hinaus hören würde. Sie überlegte lang, dann kam ihr eine Idee. Sie brauchte Nahrung, egal welche und egal woher; also schlug sie den Weg ins Dorf ein. Sie wusste, dass dort jede Bäuerin einen Garten oder ein Stück Gartenland hatte. Liesls Suche wurde belohnt, aber sie war zu müd, um sich über welke Rüben und angefaulte Kohlköple und eingetrocknete, aber noch ess­bare Bohnen zu freuen, die sie auf der Erde kniend mit zitternden Händen aus dem Boden wühlte oder von dürren Stauden zupfte. Langsam füllte sich mit dem, was sie fand, der Korb - am Abend würde es am Floitenschlag gut zu essen geben, kein Fleisch zwar, das gekocht werden könnte, aber Gemü­se in Fülle.
Hinter der Waschküche des Bauernhofs entdeckte sie eine kurze Gemüsereihe, in der einige Radieschen standen. Plötzlich überfiel sie der Hunger. Ein würziges, scharfes Radieschen war genau das, wonach ihr Magen verlangte. Sie nahm sich nicht die Zeit, es von der Erde zu säubern, sondern biss gierig hinein und schluckte die Hälfte hastig hinunter. Das Radieschen war alt, holzig und derart scharf, dass Liesl die Tränen kamen. Kaum war der Bissen geschluckt, empörte sich der leere Magen. Liesl fiel auf die Erde und erbrach sich. Schwacher Räuchergeruch, der aus der Speckkuchl kam, verschlimmerte die Übelkeit. Bäume und Gebäude begannen, sich um sie zu drehen.
Als Liesl wieder zu sich kam, blieb sie hinter dem Gartenzaun liegen. Sie fühlte sich zu elend und zu schwach, um sich zu erheben, der Erdboden fühlte sich weich an wie ein Federkissen, und niemand auf der Welt kümmerte sich um sie. Die „Staude" war zu schwach, um sich gegen Erinnerungen und Sorgen zu wehren, die sie umkreisten und über sie herfielen wie Geier, die auf den Tod der Beute lauerten. Eine zeitlose Weile lag sie unbeweglich unter-dem kalten Mond, dachte an Menschen, die dahingegangen waren, an Freudvolles, das sie seit dem Tod des Gatten nicht mehr erfahren hatte. Voller Verzweiflung blickte sie der dunklen Zukunft ins grausame Antlitz. Als sie aufstand, erhob sich eine alte, vom Leben gezeichnete Frau. Das Vergangene war vergangen, die Toten waren tot und kehrten nie­mals wieder. Als sie den schweren Korb über den Arm hing, fasste sie einen Idaren Entschluss über sich selbst und über das Leben.
Ein Zurück gab es nicht.
Dann machte sie sich auf den Weg hinauf zum Floitenschlag. Der schwere Korb schnitt in den abgemagerten Arm, bei jedem Schritt verspürte sie brennende Schmerzen an ihren kranken Gliedern.
Das Leben bestand nur noch aus dem einen Gedanken, wie etwas zu essen herbeigeschafft werden könnte. Warum hat der Magen eine so viel größere Macht als der Geist? Kummer mochte fernhaltbar sein, nicht aber der Hunger. Jeden Morgen, noch ehe sie richtig wach war und sich der Hunger bemerkbar machte, streckte sie sich verschlafen in der Erwartung von gebratenem Speck und gebackenem Brot. Die Erinnerung an üppige Mahlzeiten trieb ihr schneller Tränen in die Augen als Elend und Krieg. Der Hunger der Kinder belastete sie am meisten, sie mussten schwere körperliche Arbeit tun und haten nichts, was ihnen Kraft geben könnte...
 
Wilhelm E. Hofer: Die Floitenschlagstaude. Das Leben der einzigen und legendären Wildschützin aus dem Zillertal, 1895, S. 99-102 ©Berenkamp, 2006, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages